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Wolff, Caspar Friedrich: Theorie von der Generation. Berlin, 1764.

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Begriff einer Theorie
be, daß ich mich nicht besser ausdrücken kann.
Was über eine Sache philosophiren oder sie phi-
losophisch erkennen heist, das wißen Sie. Nicht
philosophisch erkennen, und doch aber erkennen,
heist ihre Eigenschaften aus der Erfahrung wis-
sen, dabey aber unbekümmert seyn, warum sie
diese Eigenschaften und keine andere habe, und
warum die Sache so vielmehr als anders beschaf-
fen sey. Man nennt es eine Sache bloß historisch
erkennen. Wer also zum Exempel bloß aus der
Erfahrung weiß, auf was für Art der organische
Körper des Menschen aus seinen verschiedenen
Theilen zusammengesetzt ist und aus was für Theilen
er auf diese Art zusammen gesetzt ist, der kennt den
organischen Körper des Menschen historisch. Sie
sehen dieses ist accurat die Anatomie, und diese ist al-
so nichts anders, als eine historische Kenntniß oder
eine Historie des menschlichen organischen Körpers.

Wer aber eine Sache nicht aus der Ersah-
rung unmittelbar, sondern aus ihren Gründen
und Ursachen erkennt, wer also durch diese, nicht
durch die Erfahrung, gezwungen wird, zu sagen,
die Sache muß so, und sie kann nicht anders seyn,
sie muß sich nothwendig so verhalten, sie muß die-
se Eigenschaften haben und andre kann sie nicht
haben, der sieht die Sache nicht nur historisch
sondern würklich philosophisch ein, und er hat ei-
ne philosophische Kenntniß von ihr.

Wenn nun also jemand aus denjenigen Kräf-
ten der Natur, durch welche die organischen Kör-
per formirt werden, und aus der Beschaffenheit

die-

Begriff einer Theorie
be, daß ich mich nicht beſſer ausdruͤcken kann.
Was uͤber eine Sache philoſophiren oder ſie phi-
loſophiſch erkennen heiſt, das wißen Sie. Nicht
philoſophiſch erkennen, und doch aber erkennen,
heiſt ihre Eigenſchaften aus der Erfahrung wiſ-
ſen, dabey aber unbekuͤmmert ſeyn, warum ſie
dieſe Eigenſchaften und keine andere habe, und
warum die Sache ſo vielmehr als anders beſchaf-
fen ſey. Man nennt es eine Sache bloß hiſtoriſch
erkennen. Wer alſo zum Exempel bloß aus der
Erfahrung weiß, auf was fuͤr Art der organiſche
Koͤrper des Menſchen aus ſeinen verſchiedenen
Theilen zuſammengeſetzt iſt und aus was fuͤr Theilen
er auf dieſe Art zuſammen geſetzt iſt, der kennt den
organiſchen Koͤrper des Menſchen hiſtoriſch. Sie
ſehen dieſes iſt accurat die Anatomie, und dieſe iſt al-
ſo nichts anders, als eine hiſtoriſche Kenntniß oder
eine Hiſtorie des menſchlichen organiſchen Koͤrpers.

Wer aber eine Sache nicht aus der Erſah-
rung unmittelbar, ſondern aus ihren Gruͤnden
und Urſachen erkennt, wer alſo durch dieſe, nicht
durch die Erfahrung, gezwungen wird, zu ſagen,
die Sache muß ſo, und ſie kann nicht anders ſeyn,
ſie muß ſich nothwendig ſo verhalten, ſie muß die-
ſe Eigenſchaften haben und andre kann ſie nicht
haben, der ſieht die Sache nicht nur hiſtoriſch
ſondern wuͤrklich philoſophiſch ein, und er hat ei-
ne philoſophiſche Kenntniß von ihr.

Wenn nun alſo jemand aus denjenigen Kraͤf-
ten der Natur, durch welche die organiſchen Koͤr-
per formirt werden, und aus der Beſchaffenheit

die-
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[8/0030] Begriff einer Theorie be, daß ich mich nicht beſſer ausdruͤcken kann. Was uͤber eine Sache philoſophiren oder ſie phi- loſophiſch erkennen heiſt, das wißen Sie. Nicht philoſophiſch erkennen, und doch aber erkennen, heiſt ihre Eigenſchaften aus der Erfahrung wiſ- ſen, dabey aber unbekuͤmmert ſeyn, warum ſie dieſe Eigenſchaften und keine andere habe, und warum die Sache ſo vielmehr als anders beſchaf- fen ſey. Man nennt es eine Sache bloß hiſtoriſch erkennen. Wer alſo zum Exempel bloß aus der Erfahrung weiß, auf was fuͤr Art der organiſche Koͤrper des Menſchen aus ſeinen verſchiedenen Theilen zuſammengeſetzt iſt und aus was fuͤr Theilen er auf dieſe Art zuſammen geſetzt iſt, der kennt den organiſchen Koͤrper des Menſchen hiſtoriſch. Sie ſehen dieſes iſt accurat die Anatomie, und dieſe iſt al- ſo nichts anders, als eine hiſtoriſche Kenntniß oder eine Hiſtorie des menſchlichen organiſchen Koͤrpers. Wer aber eine Sache nicht aus der Erſah- rung unmittelbar, ſondern aus ihren Gruͤnden und Urſachen erkennt, wer alſo durch dieſe, nicht durch die Erfahrung, gezwungen wird, zu ſagen, die Sache muß ſo, und ſie kann nicht anders ſeyn, ſie muß ſich nothwendig ſo verhalten, ſie muß die- ſe Eigenſchaften haben und andre kann ſie nicht haben, der ſieht die Sache nicht nur hiſtoriſch ſondern wuͤrklich philoſophiſch ein, und er hat ei- ne philoſophiſche Kenntniß von ihr. Wenn nun alſo jemand aus denjenigen Kraͤf- ten der Natur, durch welche die organiſchen Koͤr- per formirt werden, und aus der Beſchaffenheit die-

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Zitationshilfe: Wolff, Caspar Friedrich: Theorie von der Generation. Berlin, 1764, S. 8. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_theorie_1764/30>, abgerufen am 24.04.2024.