Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

F. v. W. [Margarethe von Wolff]: Gemüth und Selbstsucht. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 16. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–86. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

Bild:
<< vorherige Seite

anspruchslos, ohne Selbstbeachtung nicht ahnen mag, wie gerade ein so unschuldig zutrauliches Wesen den unwiderstehlichsten Reiz in sich schließt.

Von Victor habe ich seit einiger Zeit Briefe voll eines seltsamen, mystischen Inhalts, welche mich lebhaft beunruhigen, und um so mehr, da er meinen Fragen sichtlich durch unbestimmte Antworten ausweicht. Zu einer Anstellung ist vorläufig wenig Hoffnung; so schnell geht es damit in seinem Vaterlande nicht. Wenn du mir schon zum Oefteren vorgeworfen, ich besitze nicht genug Liebe für ihn, so muß ich wiederholen, daß nie ein ungerechterer Vorwurf mich betroffen hat. Meine Wahl ist er nicht, ich wurde die Seinige zunächst durch die Neigung die er mir zuwendete, wie durch den Wunsch meines Bruders. Jeder Mensch empfindet wohl einmal eine Neigung, in welcher alles Licht, Zauber, Verklärung scheint; aber Luft und Erde sind unzertrennlich mit einander verbunden, man erwacht aus so süßem Traume zu der Prosa des Daseins. Mein Verhältniß zu Victor ist ganz prosaisch, das heißt: ruhig, einen Tag wie den andern, ohne Uebertreibung, voll herzlicher Anerkennung. Ich thue Alles für ihn, oder vielmehr unterlasse Alles seinetwegen, versage mir die Vergnügungen der Gesellschaft, gehe auf keinen Ball und entsage überhaupt Allem, welches denkbarer Weise sein Mißfallen erregen könnte. Meine Ansicht über Victor ist rein menschlich, ich sehe sein Gutes und

anspruchslos, ohne Selbstbeachtung nicht ahnen mag, wie gerade ein so unschuldig zutrauliches Wesen den unwiderstehlichsten Reiz in sich schließt.

Von Victor habe ich seit einiger Zeit Briefe voll eines seltsamen, mystischen Inhalts, welche mich lebhaft beunruhigen, und um so mehr, da er meinen Fragen sichtlich durch unbestimmte Antworten ausweicht. Zu einer Anstellung ist vorläufig wenig Hoffnung; so schnell geht es damit in seinem Vaterlande nicht. Wenn du mir schon zum Oefteren vorgeworfen, ich besitze nicht genug Liebe für ihn, so muß ich wiederholen, daß nie ein ungerechterer Vorwurf mich betroffen hat. Meine Wahl ist er nicht, ich wurde die Seinige zunächst durch die Neigung die er mir zuwendete, wie durch den Wunsch meines Bruders. Jeder Mensch empfindet wohl einmal eine Neigung, in welcher alles Licht, Zauber, Verklärung scheint; aber Luft und Erde sind unzertrennlich mit einander verbunden, man erwacht aus so süßem Traume zu der Prosa des Daseins. Mein Verhältniß zu Victor ist ganz prosaisch, das heißt: ruhig, einen Tag wie den andern, ohne Uebertreibung, voll herzlicher Anerkennung. Ich thue Alles für ihn, oder vielmehr unterlasse Alles seinetwegen, versage mir die Vergnügungen der Gesellschaft, gehe auf keinen Ball und entsage überhaupt Allem, welches denkbarer Weise sein Mißfallen erregen könnte. Meine Ansicht über Victor ist rein menschlich, ich sehe sein Gutes und

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div type="letter">
        <p><pb facs="#f0057"/>
anspruchslos, ohne Selbstbeachtung nicht ahnen mag, wie gerade ein so unschuldig zutrauliches      Wesen den unwiderstehlichsten Reiz in sich schließt.</p><lb/>
        <p>Von Victor habe ich seit einiger Zeit Briefe voll eines seltsamen, mystischen Inhalts, welche      mich lebhaft beunruhigen, und um so mehr, da er meinen Fragen sichtlich durch unbestimmte      Antworten ausweicht. Zu einer Anstellung ist vorläufig wenig Hoffnung; so schnell geht es damit      in seinem Vaterlande nicht. Wenn du mir schon zum Oefteren vorgeworfen, ich besitze nicht genug      Liebe für ihn, so muß ich wiederholen, daß nie ein ungerechterer Vorwurf mich betroffen hat.      Meine Wahl ist er nicht, ich wurde die Seinige zunächst durch die Neigung die er mir zuwendete,      wie durch den Wunsch meines Bruders. Jeder Mensch empfindet wohl einmal eine Neigung, in      welcher alles Licht, Zauber, Verklärung scheint; aber Luft und Erde sind unzertrennlich mit      einander verbunden, man erwacht aus so süßem Traume zu der Prosa des Daseins. Mein Verhältniß      zu Victor ist ganz prosaisch, das heißt: ruhig, einen Tag wie den andern, ohne Uebertreibung,      voll herzlicher Anerkennung. Ich thue Alles für ihn, oder vielmehr unterlasse Alles      seinetwegen, versage mir die Vergnügungen der Gesellschaft, gehe auf keinen Ball und entsage      überhaupt Allem, welches denkbarer Weise sein Mißfallen erregen könnte. Meine Ansicht über      Victor ist rein menschlich, ich sehe sein Gutes und<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0057] anspruchslos, ohne Selbstbeachtung nicht ahnen mag, wie gerade ein so unschuldig zutrauliches Wesen den unwiderstehlichsten Reiz in sich schließt. Von Victor habe ich seit einiger Zeit Briefe voll eines seltsamen, mystischen Inhalts, welche mich lebhaft beunruhigen, und um so mehr, da er meinen Fragen sichtlich durch unbestimmte Antworten ausweicht. Zu einer Anstellung ist vorläufig wenig Hoffnung; so schnell geht es damit in seinem Vaterlande nicht. Wenn du mir schon zum Oefteren vorgeworfen, ich besitze nicht genug Liebe für ihn, so muß ich wiederholen, daß nie ein ungerechterer Vorwurf mich betroffen hat. Meine Wahl ist er nicht, ich wurde die Seinige zunächst durch die Neigung die er mir zuwendete, wie durch den Wunsch meines Bruders. Jeder Mensch empfindet wohl einmal eine Neigung, in welcher alles Licht, Zauber, Verklärung scheint; aber Luft und Erde sind unzertrennlich mit einander verbunden, man erwacht aus so süßem Traume zu der Prosa des Daseins. Mein Verhältniß zu Victor ist ganz prosaisch, das heißt: ruhig, einen Tag wie den andern, ohne Uebertreibung, voll herzlicher Anerkennung. Ich thue Alles für ihn, oder vielmehr unterlasse Alles seinetwegen, versage mir die Vergnügungen der Gesellschaft, gehe auf keinen Ball und entsage überhaupt Allem, welches denkbarer Weise sein Mißfallen erregen könnte. Meine Ansicht über Victor ist rein menschlich, ich sehe sein Gutes und

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-16T13:52:17Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-16T13:52:17Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (&#xa75b;): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_selbstsucht_1910
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_selbstsucht_1910/57
Zitationshilfe: F. v. W. [Margarethe von Wolff]: Gemüth und Selbstsucht. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 16. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–86. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_selbstsucht_1910/57>, abgerufen am 05.05.2024.