Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

F. v. W. [Margarethe von Wolff]: Gemüth und Selbstsucht. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 16. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–86. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

Bild:
<< vorherige Seite

In mir war tiefe Wehmuth, undenkbares, unbestimmtes Sehnen. In seltsamen Geistesträumen gedachte ich meiner Jugend, selbst meiner Kindheit. Den Kopf an den Mast gelehnt, verharrte ich lange in derselben Stellung, und drangen die Thränen aus meinem Auge. Erinnere dich der Worte des Dichters:

Du bist dir nur des einen Triebs bewußt, O lerne nie den andern kennen!

Ich war tief, tief erschüttert; kein Zaubermantel trägt mich in fremde Länder, und doch haben Dämonen Theil an dieser Fahrt. Was riß mich von dir, wenn nicht der innere Dämon? -- Wie fühlte ich Alles so lebendig, das Gute in mir, und dann wiederum die Widersprüche, die ungestillte, verblendete Leidenschaft. --

Nie hätte ich das Alles dir mündlich so sagen können. Mein Stolz ist zu leicht erregt, mein Gefühl zu leicht verletzt, ich kann nur ganz offen sein, wo jede augenblickliche Entgegnung wegfällt. Lebe wohl, theure, geliebte Sophie, möge mein Bild dich überall umgeben. Sieh mich geistig an allen wohlbekannten Plätzen, im Lehnsessel dir gegenüber, denk oft, daß meine Augen, die Augen, welche du liebtest und -- vielleicht, reuevoll gestehe ich es, die du fürchtetest, daß sie auf dir ruhen. Denke es, wenn ein Anderer -- aber ich wage nichts mehr hinzuzufügen, ich will die Huld nicht verscherzen, die wieder ganz mir zugewendet ist, das fühle ich. So lebe denn wohl, sage deinem

In mir war tiefe Wehmuth, undenkbares, unbestimmtes Sehnen. In seltsamen Geistesträumen gedachte ich meiner Jugend, selbst meiner Kindheit. Den Kopf an den Mast gelehnt, verharrte ich lange in derselben Stellung, und drangen die Thränen aus meinem Auge. Erinnere dich der Worte des Dichters:

Du bist dir nur des einen Triebs bewußt, O lerne nie den andern kennen!

Ich war tief, tief erschüttert; kein Zaubermantel trägt mich in fremde Länder, und doch haben Dämonen Theil an dieser Fahrt. Was riß mich von dir, wenn nicht der innere Dämon? — Wie fühlte ich Alles so lebendig, das Gute in mir, und dann wiederum die Widersprüche, die ungestillte, verblendete Leidenschaft. —

Nie hätte ich das Alles dir mündlich so sagen können. Mein Stolz ist zu leicht erregt, mein Gefühl zu leicht verletzt, ich kann nur ganz offen sein, wo jede augenblickliche Entgegnung wegfällt. Lebe wohl, theure, geliebte Sophie, möge mein Bild dich überall umgeben. Sieh mich geistig an allen wohlbekannten Plätzen, im Lehnsessel dir gegenüber, denk oft, daß meine Augen, die Augen, welche du liebtest und — vielleicht, reuevoll gestehe ich es, die du fürchtetest, daß sie auf dir ruhen. Denke es, wenn ein Anderer — aber ich wage nichts mehr hinzuzufügen, ich will die Huld nicht verscherzen, die wieder ganz mir zugewendet ist, das fühle ich. So lebe denn wohl, sage deinem

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div type="letter">
        <p><pb facs="#f0052"/>
In mir war tiefe      Wehmuth, undenkbares, unbestimmtes Sehnen. In seltsamen Geistesträumen gedachte ich meiner      Jugend, selbst meiner Kindheit. Den Kopf an den Mast gelehnt, verharrte ich lange in derselben      Stellung, und drangen die Thränen aus meinem Auge. Erinnere dich der Worte des Dichters:</p><lb/>
        <lg type="poem">
          <l>Du bist dir nur des einen Triebs bewußt,</l>
          <l>O lerne nie den andern kennen!</l>
        </lg>
        <p>Ich war tief, tief erschüttert; kein Zaubermantel trägt mich in fremde Länder, und doch haben      Dämonen Theil an dieser Fahrt. Was riß mich von dir, wenn nicht der innere Dämon? &#x2014; Wie fühlte      ich Alles so lebendig, das Gute in mir, und dann wiederum die Widersprüche, die ungestillte,      verblendete Leidenschaft. &#x2014; </p><lb/>
        <p>Nie hätte ich das Alles dir mündlich so sagen können. Mein Stolz ist zu leicht erregt, mein      Gefühl zu leicht verletzt, ich kann nur ganz offen sein, wo jede augenblickliche Entgegnung      wegfällt. Lebe wohl, theure, geliebte Sophie, möge mein Bild dich überall umgeben. Sieh mich      geistig an allen wohlbekannten Plätzen, im Lehnsessel dir gegenüber, denk oft, daß meine Augen,      die Augen, welche du liebtest und &#x2014; vielleicht, reuevoll gestehe ich es, die du fürchtetest,      daß sie auf dir ruhen. Denke es, wenn ein Anderer &#x2014; aber ich wage nichts mehr hinzuzufügen, ich      will die Huld nicht verscherzen, die wieder ganz mir zugewendet ist, das fühle ich. So lebe      denn wohl, sage deinem<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0052] In mir war tiefe Wehmuth, undenkbares, unbestimmtes Sehnen. In seltsamen Geistesträumen gedachte ich meiner Jugend, selbst meiner Kindheit. Den Kopf an den Mast gelehnt, verharrte ich lange in derselben Stellung, und drangen die Thränen aus meinem Auge. Erinnere dich der Worte des Dichters: Du bist dir nur des einen Triebs bewußt, O lerne nie den andern kennen! Ich war tief, tief erschüttert; kein Zaubermantel trägt mich in fremde Länder, und doch haben Dämonen Theil an dieser Fahrt. Was riß mich von dir, wenn nicht der innere Dämon? — Wie fühlte ich Alles so lebendig, das Gute in mir, und dann wiederum die Widersprüche, die ungestillte, verblendete Leidenschaft. — Nie hätte ich das Alles dir mündlich so sagen können. Mein Stolz ist zu leicht erregt, mein Gefühl zu leicht verletzt, ich kann nur ganz offen sein, wo jede augenblickliche Entgegnung wegfällt. Lebe wohl, theure, geliebte Sophie, möge mein Bild dich überall umgeben. Sieh mich geistig an allen wohlbekannten Plätzen, im Lehnsessel dir gegenüber, denk oft, daß meine Augen, die Augen, welche du liebtest und — vielleicht, reuevoll gestehe ich es, die du fürchtetest, daß sie auf dir ruhen. Denke es, wenn ein Anderer — aber ich wage nichts mehr hinzuzufügen, ich will die Huld nicht verscherzen, die wieder ganz mir zugewendet ist, das fühle ich. So lebe denn wohl, sage deinem

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-16T13:52:17Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-16T13:52:17Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (&#xa75b;): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_selbstsucht_1910
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_selbstsucht_1910/52
Zitationshilfe: F. v. W. [Margarethe von Wolff]: Gemüth und Selbstsucht. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 16. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–86. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_selbstsucht_1910/52>, abgerufen am 22.11.2024.