Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

F. v. W. [Margarethe von Wolff]: Gemüth und Selbstsucht. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 16. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–86. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

Bild:
<< vorherige Seite

kehrtheit, Gesetze noch jetzt in ihrer Kraft bestehen zu lassen, welche durch die Fortschritte der Zeit und der Cultur als durchaus unzulässig erscheinen müßten. In mir ist seit lange der sehr begreifliche Wunsch rege, die Verwaltung, die Stimmung in andern Ländern mit der im Vaterland zu vergleichen. Ich wünsche zu dem Zwecke England, Frankreich und, was Ihnen vielleicht seltsam erscheinen mag, Holland zu bereisen und kennen zu lernen. Italien werde ich später besuchen, aber eigentlich nur zu einer, ich möchte sagen, poetischen Belehrung, denn in staatswissenschaftlicher Beziehung möchte ich dort schwerlich viel lernen, vielleicht nur, als insoferne auch das Mangelhafte unterrichtend sein kann.

Herr Steffano lächelte. Dein Wille mag vortrefflich sein, lieber Neffe, aber wäre es nicht heilsamer für dich, wenn du, unbekümmert um die Vortheile oder Nachtheile, deren andere Länder theilhaftig sind, im Vaterlande eine Anstellung suchtest und derselben mit Umsicht und Pflichttreue vorständest? Der Begriff des Besseren und Zeitgemäßeren bleibt insofern stets abhängig, als selbst das Gute dieser Art nicht auf alle Menschen und auf alle Zustände anwendbar ist. -- Man findet überall einen National- und doch auch wieder, möchte ich sagen, einen Orts-Character, und um dieser letzeren Ursache willen wird es eine ewig unauflösbare Aufgabe bleiben, die Gesetzgebung irgend eines Landes auf die Individualität der Bewohner mit Genauigkeit anzuwenden. Was für die Mehrzahl

kehrtheit, Gesetze noch jetzt in ihrer Kraft bestehen zu lassen, welche durch die Fortschritte der Zeit und der Cultur als durchaus unzulässig erscheinen müßten. In mir ist seit lange der sehr begreifliche Wunsch rege, die Verwaltung, die Stimmung in andern Ländern mit der im Vaterland zu vergleichen. Ich wünsche zu dem Zwecke England, Frankreich und, was Ihnen vielleicht seltsam erscheinen mag, Holland zu bereisen und kennen zu lernen. Italien werde ich später besuchen, aber eigentlich nur zu einer, ich möchte sagen, poetischen Belehrung, denn in staatswissenschaftlicher Beziehung möchte ich dort schwerlich viel lernen, vielleicht nur, als insoferne auch das Mangelhafte unterrichtend sein kann.

Herr Steffano lächelte. Dein Wille mag vortrefflich sein, lieber Neffe, aber wäre es nicht heilsamer für dich, wenn du, unbekümmert um die Vortheile oder Nachtheile, deren andere Länder theilhaftig sind, im Vaterlande eine Anstellung suchtest und derselben mit Umsicht und Pflichttreue vorständest? Der Begriff des Besseren und Zeitgemäßeren bleibt insofern stets abhängig, als selbst das Gute dieser Art nicht auf alle Menschen und auf alle Zustände anwendbar ist. — Man findet überall einen National- und doch auch wieder, möchte ich sagen, einen Orts-Character, und um dieser letzeren Ursache willen wird es eine ewig unauflösbare Aufgabe bleiben, die Gesetzgebung irgend eines Landes auf die Individualität der Bewohner mit Genauigkeit anzuwenden. Was für die Mehrzahl

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div type="chapter" n="1">
        <p><pb facs="#f0013"/>
kehrtheit, Gesetze noch jetzt in ihrer Kraft bestehen zu      lassen, welche durch die Fortschritte der Zeit und der Cultur als durchaus unzulässig      erscheinen müßten. In mir ist seit lange der sehr begreifliche Wunsch rege, die Verwaltung, die      Stimmung in andern Ländern mit der im Vaterland zu vergleichen. Ich wünsche zu dem Zwecke      England, Frankreich und, was Ihnen vielleicht seltsam erscheinen mag, Holland zu bereisen und      kennen zu lernen. Italien werde ich später besuchen, aber eigentlich nur zu einer, ich möchte      sagen, poetischen Belehrung, denn in staatswissenschaftlicher Beziehung möchte ich dort      schwerlich viel lernen, vielleicht nur, als insoferne auch das Mangelhafte unterrichtend sein      kann.</p><lb/>
        <p>Herr Steffano lächelte. Dein Wille mag vortrefflich sein, lieber Neffe, aber wäre es nicht      heilsamer für dich, wenn du, unbekümmert um die Vortheile oder Nachtheile, deren andere Länder      theilhaftig sind, im Vaterlande eine Anstellung suchtest und derselben mit Umsicht und      Pflichttreue vorständest? Der Begriff des Besseren und Zeitgemäßeren bleibt insofern stets      abhängig, als selbst das Gute dieser Art nicht auf alle Menschen und auf alle Zustände      anwendbar ist. &#x2014; Man findet überall einen National- und doch auch wieder, möchte ich sagen,      einen Orts-Character, und um dieser letzeren Ursache willen wird es eine ewig unauflösbare      Aufgabe bleiben, die Gesetzgebung irgend eines Landes auf die Individualität der Bewohner mit      Genauigkeit anzuwenden. Was für die Mehrzahl<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0013] kehrtheit, Gesetze noch jetzt in ihrer Kraft bestehen zu lassen, welche durch die Fortschritte der Zeit und der Cultur als durchaus unzulässig erscheinen müßten. In mir ist seit lange der sehr begreifliche Wunsch rege, die Verwaltung, die Stimmung in andern Ländern mit der im Vaterland zu vergleichen. Ich wünsche zu dem Zwecke England, Frankreich und, was Ihnen vielleicht seltsam erscheinen mag, Holland zu bereisen und kennen zu lernen. Italien werde ich später besuchen, aber eigentlich nur zu einer, ich möchte sagen, poetischen Belehrung, denn in staatswissenschaftlicher Beziehung möchte ich dort schwerlich viel lernen, vielleicht nur, als insoferne auch das Mangelhafte unterrichtend sein kann. Herr Steffano lächelte. Dein Wille mag vortrefflich sein, lieber Neffe, aber wäre es nicht heilsamer für dich, wenn du, unbekümmert um die Vortheile oder Nachtheile, deren andere Länder theilhaftig sind, im Vaterlande eine Anstellung suchtest und derselben mit Umsicht und Pflichttreue vorständest? Der Begriff des Besseren und Zeitgemäßeren bleibt insofern stets abhängig, als selbst das Gute dieser Art nicht auf alle Menschen und auf alle Zustände anwendbar ist. — Man findet überall einen National- und doch auch wieder, möchte ich sagen, einen Orts-Character, und um dieser letzeren Ursache willen wird es eine ewig unauflösbare Aufgabe bleiben, die Gesetzgebung irgend eines Landes auf die Individualität der Bewohner mit Genauigkeit anzuwenden. Was für die Mehrzahl

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-16T13:52:17Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-16T13:52:17Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (&#xa75b;): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_selbstsucht_1910
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_selbstsucht_1910/13
Zitationshilfe: F. v. W. [Margarethe von Wolff]: Gemüth und Selbstsucht. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 16. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–86. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_selbstsucht_1910/13>, abgerufen am 24.11.2024.