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Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.

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zugleich die heiligsten, hehrsten Töne der Verehrung und die überschwenglichsten pwo_059.002
Sinnenergüsse beherrscht; daß ein Dichter die erhabensten pwo_059.003
Jdeen verkünden und doch das Leben übervoll genießen kann; pwo_059.004
daß er andererseits die Leidenschaft bis in ihre dunkelsten Tiefen darstellen pwo_059.005
und doch ein imponierender Charakter sein kann. All seine pwo_059.006
Gefühle sind eben potenziert: in dem gesteigerten Gefühlsleben liegt pwo_059.007
seine Dichtergabe.

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Soweit nicht durch ihre exponierte Stellung gegenüber der Oeffentlichkeit pwo_059.010
und den Mitspielern ein verändertes Auftreten begreiflich wird, pwo_059.011
findet es seine Erklärung in dem auch ihnen notwendigen gesteigerten pwo_059.012
Gefühlsleben, ohne welches sie keine kongenialen Mittler des Dichterwortes pwo_059.013
wären.

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Begründung der poetischen Form.
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Die innere Ergründung der Poesie als Ausdruck erhobener Gefühle pwo_059.017
darf ungleich größere Bedeutung in Anspruch nehmen als jede pwo_059.018
rein formale Erklärung. Dennoch leuchtet nicht ohne weiteres ein, pwo_059.019
welche Rolle angesichts der gewonnenen Definition nun der poetischen pwo_059.020
Form zuzuerkennen ist, die doch auf irgend eine, wennschon nicht pwo_059.021
ausschlaggebende Weise in der Begriffsbestimmung der Poesie enthalten pwo_059.022
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Wie kaum an einem zweiten Punkte der Poetik versagen hier pwo_059.024
die meisten Versuche fast gänzlich. Um nur die fortgeschrittensten pwo_059.025
Forscher zu berücksichtigen, blicken wir zunächst auf die in so vieler pwo_059.026
Hinsicht reichhaltige und treffsichere Poetik von Wilhelm Wackernagel. pwo_059.027
Hier lehrt er ganz abstrakt: "Schönheit der Darstellung wird erreicht, pwo_059.028
wenn auch deren Mittel, die Sprache, die Worte dem Gesetz der pwo_059.029
Schönheit unterworfen sind, wenn auch in ihnen Einheit des Mannigfaltigen pwo_059.030
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beherrscht die Rede am sichersten durch rhythmische Gliederung derselben." pwo_059.032
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um "Einheit des Mannigfaltigen" herzustellen, kann auf Klarheit und pwo_059.034
positive Greifbarkeit wenig Anspruch erheben. Noch bedenklicher ist pwo_059.035
die empirische Erklärung Wilhelm Scherers: "Der Rhythmus ist entsprungen

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seine Dichtergabe.

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Schönheit unterworfen sind, wenn auch in ihnen Einheit des Mannigfaltigen pwo_059.030
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Zitationshilfe: Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 59. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/73>, abgerufen am 03.05.2024.