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Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.

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- man vergleiche auch den Gebrauch der so rhetorischen lateininischen pwo_055.002
Sprache. Auf dasselbe notwendig wirkende Gesetz werden pwo_055.003
wir es nun zurückführen, daß im mittelhochdeutschen Epos jeder Held pwo_055.004
als der kühnste Degen, jede Heldin als die minniglichste Maid übereinstimmend pwo_055.005
vorgestellt wird, beide Teile aber als so reich, daß niemand pwo_055.006
reicher könnte sein, u. ä. m.

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Zur Potenzierung drängt denn alle poetische Darstellung hin. pwo_055.008
Darum muß in Goethes "Willkommen und Abschied" "Finsternis aus pwo_055.009
dem Gesträuche mit hundert schwarzen Augen" sehen, darum ebenda pwo_055.010
"die Nacht tausend Ungeheuer" schaffen; im "Mailied"

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"dringen Blüten pwo_055.012
Aus jedem Zweig, pwo_055.013
Und tausend Stimmen pwo_055.014
Aus dem Gesträuch."
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Ewig, unendlich, all überschwemmen die Poesie. Von Verben sind pwo_055.016
die sinnlich ergiebigsten, die Handlung am schärfsten ausdrückenden pwo_055.017
gewählt. So kleidet Goethes "West-östlicher Divan" den Gedanken pwo_055.018
der Umbildung und Entwicklung in die Wendungen:

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"Und so lang du das nicht hast, pwo_055.020
Dieses: Stirb und werde! pwo_055.021
Bist du nur ein trüber Gast pwo_055.022
Auf der dunklen Erde."
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Aehnlich genügt seinem dichterischen Ausdruck nicht die Feststellung:

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"Befindet sich einer heiter und gut, pwo_055.025
Gleich will ihn der Nachbar peinigen;"
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er potenziert sie in dem Reim:

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"So lang der Tüchtige lebt und thut, pwo_055.028
Möchten sie ihn gerne steinigen."
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Daß Goethe in seinem Alter vielen seiner Volksgenossen unbequem pwo_055.030
geworden, spitzt sich in derselben Sammlung ähnlich zu:

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"Mit der Deutschen Freundschaft pwo_055.032
Hat's keine Not ..... pwo_055.033
Sie lassen mich alle grüßen, pwo_055.034
Und hassen mich bis in Tod."

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– man vergleiche auch den Gebrauch der so rhetorischen lateininischen pwo_055.002
Sprache. Auf dasselbe notwendig wirkende Gesetz werden pwo_055.003
wir es nun zurückführen, daß im mittelhochdeutschen Epos jeder Held pwo_055.004
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vorgestellt wird, beide Teile aber als so reich, daß niemand pwo_055.006
reicher könnte sein, u. ä. m.

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  Zur Potenzierung drängt denn alle poetische Darstellung hin. pwo_055.008
Darum muß in Goethes „Willkommen und Abschied“ „Finsternis aus pwo_055.009
dem Gesträuche mit hundert schwarzen Augen“ sehen, darum ebenda pwo_055.010
„die Nacht tausend Ungeheuer“ schaffen; im „Mailied“

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Daß Goethe in seinem Alter vielen seiner Volksgenossen unbequem pwo_055.030
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„Mit der Deutschen Freundschaft pwo_055.032
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Zitationshilfe: Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 55. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/69>, abgerufen am 03.05.2024.