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Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.

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An späterer Stelle der Odyssee kommt dasselbe Stilmittel unter pwo_036.002
anderm zu folgender Verwendung:

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"Aber Nausikaa stand, geschmückt mit göttlicher Schönheit, pwo_036.004
Und betrachtete wundernd den göttergleichen Odysseus."
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Dieser seinerseits gelobt:

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"Täglich werd' ich auch dort wie einer Göttin voll Ehrfurcht pwo_036.007
Dir danksagen ..."

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Sogar noch in der Parodie tritt dieselbe Neigung der Poesie hervor. pwo_036.009
Aristophanes läßt in seinen "Vögeln" den Wiedehopf zur Nachtigall pwo_036.010
sagen:

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"Laß ertönen die Weisen geweihten Gesangs, pwo_036.012
Die aus göttlichem Munde dir quellen hervor ... pwo_036.013
Hell dringet hindurch durch der Bäume Gezweig pwo_036.014
Der süße Klang bis zum Throne des Zeus."
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So weit wir auch zeitlich vorschreiten und in welche Zone wir pwo_036.016
blicken, die Vergöttlichung blinkt uns immer wieder aus der Poesie pwo_036.017
entgegen. Ein Jahrtausend nach Christus benutzt der Perser Firdusi pwo_036.018
in seinem "Königsbuch" gleichsam eine dramatische Form zur Aussprache pwo_036.019
der Gottähnlichkeit seines Helden:

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"Die Augen ihm, die Lippen küßte sie, pwo_036.021
Der Anblick, schien's, ersättigte sie nie. pwo_036.022
Sie pries den Schöpfer tausendfach darob pwo_036.023
Und sprach: ,Dem Herren, der dich schuf, sei Lob! pwo_036.024
Weil keiner sonst vergleichbar ist mit dir, pwo_036.025
Kein andrer Sohn des Schahs sich mißt mit dir!'"
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Hier zeichnet der Dichter die Schönheit seines Helden durch ihre pwo_036.027
Wirkung: ihr Anblick stimmt religiös.

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Wenden wir uns der Neuzeit zu, so kann es nicht überraschen, pwo_036.029
etwa einen Racine seinen König über die Götter erheben zu sehen, die,

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"von seinem Ruhm geblendet, den Nektar geringer schätzen, pwo_036.031
als die hohe Lust, Ludwig nahe zu sein" -

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in solchen Wendungen richtet sich leibhaft "Der Ruhm an die Musen". pwo_036.033
Aber Racine läßt auch die Gottheit der Liebe vom Himmel steigen, pwo_036.034
damit sie den schönen Augen der Geliebten huldige. Und zahlreiche

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als die hohe Lust, Ludwig nahe zu sein“ –

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Zitationshilfe: Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 36. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/50>, abgerufen am 28.03.2024.