"Und singend einst und jubelndpwo_019.003 Durchs alte Erdenhauspwo_019.004 Zieht als der letzte Dichterpwo_019.005 Der letzte Mensch hinaus" -
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jauchzt der andere (Anastasius Grün). Während Goethe bekennt: pwo_019.007 "Alle meine Gedichte sind Gelegenheitsgedichte, sie sind durch die pwo_019.008 Wirklichkeit angeregt", - dissentiert Schiller: "Jch glaube, es ist pwo_019.009 nicht immer die lebhafte Vorstellung seines Stoffs, sondern oft nur pwo_019.010 ein Bedürfnis nach Stoff, ein unbestimmter Drang nach Ergießung pwo_019.011 strebender Gefühle, was Werke der Begeisterung erzeugt".
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Es leuchtet zunächst ein, daß all solche Geständnisse aus Dichtermund pwo_019.013 subjektiv gefärbt sind. Weit entfernt, daß ein Urteil des Dichters pwo_019.014 selbst über die Dichtkunst ohne weiteres als objektiv beweiskräftig pwo_019.015 hinzunehmen ist, kann es nicht einmal für seine eigene Dichtung unbedingte pwo_019.016 Zuverlässigkeit in Anspruch nehmen. Denn das Schaffen des pwo_019.017 echten Künstlers geschieht immer bis zu einem gewissen Grade reflexionslos; pwo_019.018 sobald er darüber reflektiert, ist er also vor einer Selbsttäuschung pwo_019.019 nicht völlig gesichert.
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Außerdem tragen solche Aeußerungen, wenn anders nicht der pwo_019.021 betreffende Dichter ausdrücklich Untersuchungen von wissenschaftlicher pwo_019.022 Beweiskraft anstrebt, gelegentlichen Charakter und erstrecken sich bald pwo_019.023 auf diese, bald auf jene zufällige Einzelheit. So betreffen Zeugnisse pwo_019.024 dieser Art, wie sie z. B. Wilhelm Dilthey zusammenrückt: Goethes pwo_019.025 Erfahrung, wenn er an eine Blume dachte, Schillers soeben herausgehobene pwo_019.026 Aeußerung über unbestimmte Gefühle, Geständnisse von pwo_019.027 Alfieri und Heinrich von Kleist über musikalische Empfindungen, Otto pwo_019.028 Ludwigs Beschreibung von Farbenerscheinungen, - Auslassungen, die pwo_019.029 sämtlich über den Ausgangspunkt der dichterischen Produktion Aufschluß pwo_019.030 geben sollen.
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Es erhellt, daß auch sie nur als nach Zeit, Ort und Subjekt pwo_019.032 beschränkte Teile des umfassenden Materials dienen können und gerade pwo_019.033 erst im Zusammenhang der geschichtlichen Entwicklung ihre Bedeutung pwo_019.034 kritisch beleuchtet wird.
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stöhnt der eine (Justinus Kerner),
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jauchzt der andere (Anastasius Grün). Während Goethe bekennt: pwo_019.007 „Alle meine Gedichte sind Gelegenheitsgedichte, sie sind durch die pwo_019.008 Wirklichkeit angeregt“, – dissentiert Schiller: „Jch glaube, es ist pwo_019.009 nicht immer die lebhafte Vorstellung seines Stoffs, sondern oft nur pwo_019.010 ein Bedürfnis nach Stoff, ein unbestimmter Drang nach Ergießung pwo_019.011 strebender Gefühle, was Werke der Begeisterung erzeugt“.
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Es leuchtet zunächst ein, daß all solche Geständnisse aus Dichtermund pwo_019.013 subjektiv gefärbt sind. Weit entfernt, daß ein Urteil des Dichters pwo_019.014 selbst über die Dichtkunst ohne weiteres als objektiv beweiskräftig pwo_019.015 hinzunehmen ist, kann es nicht einmal für seine eigene Dichtung unbedingte pwo_019.016 Zuverlässigkeit in Anspruch nehmen. Denn das Schaffen des pwo_019.017 echten Künstlers geschieht immer bis zu einem gewissen Grade reflexionslos; pwo_019.018 sobald er darüber reflektiert, ist er also vor einer Selbsttäuschung pwo_019.019 nicht völlig gesichert.
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Außerdem tragen solche Aeußerungen, wenn anders nicht der pwo_019.021 betreffende Dichter ausdrücklich Untersuchungen von wissenschaftlicher pwo_019.022 Beweiskraft anstrebt, gelegentlichen Charakter und erstrecken sich bald pwo_019.023 auf diese, bald auf jene zufällige Einzelheit. So betreffen Zeugnisse pwo_019.024 dieser Art, wie sie z. B. Wilhelm Dilthey zusammenrückt: Goethes pwo_019.025 Erfahrung, wenn er an eine Blume dachte, Schillers soeben herausgehobene pwo_019.026 Aeußerung über unbestimmte Gefühle, Geständnisse von pwo_019.027 Alfieri und Heinrich von Kleist über musikalische Empfindungen, Otto pwo_019.028 Ludwigs Beschreibung von Farbenerscheinungen, – Auslassungen, die pwo_019.029 sämtlich über den Ausgangspunkt der dichterischen Produktion Aufschluß pwo_019.030 geben sollen.
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Es erhellt, daß auch sie nur als nach Zeit, Ort und Subjekt pwo_019.032 beschränkte Teile des umfassenden Materials dienen können und gerade pwo_019.033 erst im Zusammenhang der geschichtlichen Entwicklung ihre Bedeutung pwo_019.034 kritisch beleuchtet wird.
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Aeußerung über unbestimmte Gefühle, Geständnisse von pwo_019.027
Alfieri und Heinrich von Kleist über musikalische Empfindungen, Otto pwo_019.028
Ludwigs Beschreibung von Farbenerscheinungen, – Auslassungen, die pwo_019.029
sämtlich über den Ausgangspunkt der dichterischen Produktion Aufschluß pwo_019.030
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Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 19. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/33>, abgerufen am 27.07.2024.
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