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Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.

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zum Ausgangspunkt ihrer gesamten Untersuchung die Definition der pwo_017.002
Poesie als "schöner Darstellung des Schönen durch das Wort".

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Gewiß haben platte Naturalisten die Schönheitstheorie mißverstanden, pwo_017.004
wenn sie ihr eine "schönfärberische" Tendenz unterschieben pwo_017.005
und meinen, daß durch eine solche Zweckbestimmung entweder der pwo_017.006
Horizont auf das bloße Gebiet des unmittelbar Schönen eingeengt pwo_017.007
oder aber jeder andere, nicht rein angenehme Gegenstand in der dichterischen pwo_017.008
Darstellung nach der Seite der Beschönigung verfälscht würde.

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Worum es sich nur handeln kann, ist eine derartige Beleuchtung pwo_017.010
der behandelten Stoffe, daß ihre Darstellung einen möglichst anmutenden pwo_017.011
Eindruck hervorruft, zum mindesten nicht grell unser Schönheitsgefühl pwo_017.012
herausfordert.

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Kommt damit aber das Wesen der Poesie zu vollem positiven pwo_017.014
Ausdruck? Zielt Shakespeares "Richard III." auf möglichst weitgehende pwo_017.015
Schönheit? Hat der Dichter solch ein Drama in der Absicht pwo_017.016
eines Schönheitskultus geschaffen? Oder wird auch nur das Wesen pwo_017.017
einer gewiß schon dem Stoffe nach nicht unästhetischen Dichtung wie pwo_017.018
des Goetheschen "Prometheus" durch die Schönheitstheorie irgend getroffen, pwo_017.019
geschweige erschöpft?

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"Hier sitz' ich, forme Menschen pwo_017.021
Nach meinem Bilde, pwo_017.022
Ein Geschlecht, das mir gleich sei, pwo_017.023
Zu leiden, zu weinen, pwo_017.024
Zu genießen und zu freuen sich pwo_017.025
Und dein nicht zu achten, pwo_017.026
Wie ich!"
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Ein durch theoretische Erörterungen nicht befangenes Gemüt dürfte pwo_017.028
durch die Strophe kaum gerade seinen Schönheitssinn wachgerufen pwo_017.029
finden; an ganz andern Seelenkräften wird es sich getroffen fühlen, pwo_017.030
weit mächtiger durchdrungen sein! Denken wir schließlich noch an pwo_017.031
Goethes "Götz von Berlichingen" oder gar an Schillers "Räuber". pwo_017.032
Jst deren Wesen irgend durch "Schönheit" bezeichnet? Also wären pwo_017.033
es keine Dichtungen?! Aber wir schreiben von ihnen doch die Erneuerung, pwo_017.034
die Verjüngung unserer Litteratur her.

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Mit Recht hat die moderne Kunst, auch wo sie nicht naturalistisch pwo_017.036
am Rohstoff haften bleibt, das Streben nach Schönheit als pwo_017.037
oberstes Kunstgesetz zu eng befunden, in ihrem immer entschiedeneren

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zum Ausgangspunkt ihrer gesamten Untersuchung die Definition der pwo_017.002
Poesie als „schöner Darstellung des Schönen durch das Wort“.

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  Gewiß haben platte Naturalisten die Schönheitstheorie mißverstanden, pwo_017.004
wenn sie ihr eine „schönfärberische“ Tendenz unterschieben pwo_017.005
und meinen, daß durch eine solche Zweckbestimmung entweder der pwo_017.006
Horizont auf das bloße Gebiet des unmittelbar Schönen eingeengt pwo_017.007
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Schönheit? Hat der Dichter solch ein Drama in der Absicht pwo_017.016
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einer gewiß schon dem Stoffe nach nicht unästhetischen Dichtung wie pwo_017.018
des Goetheschen „Prometheus“ durch die Schönheitstheorie irgend getroffen, pwo_017.019
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„Hier sitz' ich, forme Menschen pwo_017.021
Nach meinem Bilde, pwo_017.022
Ein Geschlecht, das mir gleich sei, pwo_017.023
Zu leiden, zu weinen, pwo_017.024
Zu genießen und zu freuen sich pwo_017.025
Und dein nicht zu achten, pwo_017.026
Wie ich!“
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Ein durch theoretische Erörterungen nicht befangenes Gemüt dürfte pwo_017.028
durch die Strophe kaum gerade seinen Schönheitssinn wachgerufen pwo_017.029
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Goethes „Götz von Berlichingen“ oder gar an Schillers „Räuber“. pwo_017.032
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  Mit Recht hat die moderne Kunst, auch wo sie nicht naturalistisch pwo_017.036
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Zitationshilfe: Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 17. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/31>, abgerufen am 18.04.2024.