Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.

Bild:
<< vorherige Seite

pwo_005.001
Berührung mit Horaz, aber zum guten Teil entspringt sie aus Verwandtschaft pwo_005.002
der beiden kritischen Köpfe.

pwo_005.003

Mit Boileau gelangt der "gesunde Menschenverstand" (bon sens) pwo_005.004
in Auffassung der Poesie zur Herrschaft; nichts ist ihm schön als das pwo_005.005
Wahre; Verstiegenheit der Phantasie erregt seinen Spott - so war pwo_005.006
er zu einer ästhetischen Autorität auch des deutschen Rationalismus pwo_005.007
prädestiniert.

pwo_005.008

Nächstdem ist es namentlich Hedelin, der Abt von Aubignac, pwo_005.009
der bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts in Deutschland anerkannte pwo_005.010
Geltung, in erster Linie für theatralische Fragen, genießt. Auch sonst pwo_005.011
entfaltet jeder deutsche Beitrag zur Poetik bis in Lessings Tage eine pwo_005.012
bunte Musterkarte französischer Autoritäten.

pwo_005.013
§ 6. pwo_005.014
Spekulativ-dogmatische Poetik.
pwo_005.015

Jnzwischen versucht die philosophische Spekulation selbständig ihre pwo_005.016
Schwingen.

pwo_005.017

Neben Gottsched hergehend, unternehmen die Züricher Kunstrichter pwo_005.018
Bodmer und Breitinger die Begründung einer eigenen Kunstlehre pwo_005.019
aus der Phantasie. Obschon von eigenem Geiste durchdrungen, pwo_005.020
zeigen sich ihre (in der Hauptsache 1740 erschienenen) theoretischen pwo_005.021
Schriften in den Einzelfragen noch weithin von fremden Autoritäten pwo_005.022
abhängig. Nicht anders ergeht es Gottscheds hervorragendstem Schüler pwo_005.023
Johann Elias Schlegel, der (noch in den vierziger Jahren) das pwo_005.024
Verhältnis der Kunst zur Natur weniger sklavisch darstellen will.

pwo_005.025

Begründer der ausgebildeten, geschlossen systematischen Theorie pwo_005.026
der Kunst auf spekulativer Grundlage wird indessen erst Alexander pwo_005.027
Baumgarten,
dessen "Aesthetika" (Band I: 1750, Band II: pwo_005.028
1758) der neuen Wissenschaft den Namen gab. Wie dieser Name pwo_005.029
sagt, sieht Baumgarten in ihr eine Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis, pwo_005.030
deren Vollkommenheit, die Schönheit, damit zum Prinzip pwo_005.031
der Kunst erhoben war.

pwo_005.032

Seinen Ausgang nahm Baumgarten von der Philosophie Christian pwo_005.033
Wolfs, die weniger ihre Aufgabe in Ergründung des Welträtsels pwo_005.034
als in dem formalistischen Streben sah, Ordnung in die Uebersicht pwo_005.035
aller Gebiete des menschlichen Geistes zu bringen: so führte das

pwo_005.001
Berührung mit Horaz, aber zum guten Teil entspringt sie aus Verwandtschaft pwo_005.002
der beiden kritischen Köpfe.

pwo_005.003

  Mit Boileau gelangt der „gesunde Menschenverstand“ (bon sens) pwo_005.004
in Auffassung der Poesie zur Herrschaft; nichts ist ihm schön als das pwo_005.005
Wahre; Verstiegenheit der Phantasie erregt seinen Spott – so war pwo_005.006
er zu einer ästhetischen Autorität auch des deutschen Rationalismus pwo_005.007
prädestiniert.

pwo_005.008

  Nächstdem ist es namentlich Hedelin, der Abt von Aubignac, pwo_005.009
der bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts in Deutschland anerkannte pwo_005.010
Geltung, in erster Linie für theatralische Fragen, genießt. Auch sonst pwo_005.011
entfaltet jeder deutsche Beitrag zur Poetik bis in Lessings Tage eine pwo_005.012
bunte Musterkarte französischer Autoritäten.

pwo_005.013
§ 6. pwo_005.014
Spekulativ-dogmatische Poetik.
pwo_005.015

  Jnzwischen versucht die philosophische Spekulation selbständig ihre pwo_005.016
Schwingen.

pwo_005.017

  Neben Gottsched hergehend, unternehmen die Züricher Kunstrichter pwo_005.018
Bodmer und Breitinger die Begründung einer eigenen Kunstlehre pwo_005.019
aus der Phantasie. Obschon von eigenem Geiste durchdrungen, pwo_005.020
zeigen sich ihre (in der Hauptsache 1740 erschienenen) theoretischen pwo_005.021
Schriften in den Einzelfragen noch weithin von fremden Autoritäten pwo_005.022
abhängig. Nicht anders ergeht es Gottscheds hervorragendstem Schüler pwo_005.023
Johann Elias Schlegel, der (noch in den vierziger Jahren) das pwo_005.024
Verhältnis der Kunst zur Natur weniger sklavisch darstellen will.

pwo_005.025

  Begründer der ausgebildeten, geschlossen systematischen Theorie pwo_005.026
der Kunst auf spekulativer Grundlage wird indessen erst Alexander pwo_005.027
Baumgarten,
dessen „Aesthetika“ (Band I: 1750, Band II: pwo_005.028
1758) der neuen Wissenschaft den Namen gab. Wie dieser Name pwo_005.029
sagt, sieht Baumgarten in ihr eine Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis, pwo_005.030
deren Vollkommenheit, die Schönheit, damit zum Prinzip pwo_005.031
der Kunst erhoben war.

pwo_005.032

  Seinen Ausgang nahm Baumgarten von der Philosophie Christian pwo_005.033
Wolfs, die weniger ihre Aufgabe in Ergründung des Welträtsels pwo_005.034
als in dem formalistischen Streben sah, Ordnung in die Uebersicht pwo_005.035
aller Gebiete des menschlichen Geistes zu bringen: so führte das

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0019" n="5"/><lb n="pwo_005.001"/>
Berührung mit Horaz, aber zum guten Teil entspringt sie aus Verwandtschaft <lb n="pwo_005.002"/>
der beiden kritischen Köpfe.</p>
            <lb n="pwo_005.003"/>
            <p>  Mit Boileau gelangt der &#x201E;gesunde Menschenverstand&#x201C; (<hi rendition="#aq">bon sens</hi>) <lb n="pwo_005.004"/>
in Auffassung der Poesie zur Herrschaft; nichts ist ihm schön als das <lb n="pwo_005.005"/>
Wahre; Verstiegenheit der Phantasie erregt seinen Spott &#x2013; so war <lb n="pwo_005.006"/>
er zu einer ästhetischen Autorität auch des deutschen Rationalismus <lb n="pwo_005.007"/>
prädestiniert.</p>
            <lb n="pwo_005.008"/>
            <p>  Nächstdem ist es namentlich <hi rendition="#g">Hedelin,</hi> der Abt von Aubignac, <lb n="pwo_005.009"/>
der bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts in Deutschland anerkannte <lb n="pwo_005.010"/>
Geltung, in erster Linie für theatralische Fragen, genießt. Auch sonst <lb n="pwo_005.011"/>
entfaltet jeder deutsche Beitrag zur Poetik bis in Lessings Tage eine <lb n="pwo_005.012"/>
bunte Musterkarte französischer Autoritäten.</p>
          </div>
          <div n="3">
            <lb n="pwo_005.013"/>
            <head> <hi rendition="#c">§ 6. <lb n="pwo_005.014"/>
Spekulativ-dogmatische Poetik.</hi> </head>
            <lb n="pwo_005.015"/>
            <p>  Jnzwischen versucht die philosophische Spekulation selbständig ihre <lb n="pwo_005.016"/>
Schwingen.</p>
            <lb n="pwo_005.017"/>
            <p>  Neben Gottsched hergehend, unternehmen die Züricher Kunstrichter <lb n="pwo_005.018"/>
Bodmer und Breitinger die Begründung einer eigenen Kunstlehre <lb n="pwo_005.019"/>
aus der Phantasie. Obschon von eigenem Geiste durchdrungen, <lb n="pwo_005.020"/>
zeigen sich ihre (in der Hauptsache 1740 erschienenen) theoretischen <lb n="pwo_005.021"/>
Schriften in den Einzelfragen noch weithin von fremden Autoritäten <lb n="pwo_005.022"/>
abhängig. Nicht anders ergeht es Gottscheds hervorragendstem Schüler <lb n="pwo_005.023"/>
Johann Elias Schlegel, der (noch in den vierziger Jahren) das <lb n="pwo_005.024"/>
Verhältnis der Kunst zur Natur weniger sklavisch darstellen will.</p>
            <lb n="pwo_005.025"/>
            <p>  Begründer der ausgebildeten, geschlossen systematischen Theorie <lb n="pwo_005.026"/>
der Kunst auf spekulativer Grundlage wird indessen erst <hi rendition="#g">Alexander <lb n="pwo_005.027"/>
Baumgarten,</hi> dessen &#x201E;<hi rendition="#g">Aesthetika</hi>&#x201C; (Band <hi rendition="#aq">I</hi>: 1750, Band <hi rendition="#aq">II</hi>: <lb n="pwo_005.028"/>
1758) der neuen Wissenschaft den Namen gab. Wie dieser Name <lb n="pwo_005.029"/>
sagt, sieht Baumgarten in ihr eine Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis, <lb n="pwo_005.030"/>
deren Vollkommenheit, die Schönheit, damit zum Prinzip <lb n="pwo_005.031"/>
der Kunst erhoben war.</p>
            <lb n="pwo_005.032"/>
            <p>  Seinen Ausgang nahm Baumgarten von der Philosophie Christian <lb n="pwo_005.033"/>
Wolfs, die weniger ihre Aufgabe in Ergründung des Welträtsels <lb n="pwo_005.034"/>
als in dem formalistischen Streben sah, Ordnung in die Uebersicht <lb n="pwo_005.035"/>
aller Gebiete des menschlichen Geistes zu bringen: so führte das
</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[5/0019] pwo_005.001 Berührung mit Horaz, aber zum guten Teil entspringt sie aus Verwandtschaft pwo_005.002 der beiden kritischen Köpfe. pwo_005.003   Mit Boileau gelangt der „gesunde Menschenverstand“ (bon sens) pwo_005.004 in Auffassung der Poesie zur Herrschaft; nichts ist ihm schön als das pwo_005.005 Wahre; Verstiegenheit der Phantasie erregt seinen Spott – so war pwo_005.006 er zu einer ästhetischen Autorität auch des deutschen Rationalismus pwo_005.007 prädestiniert. pwo_005.008   Nächstdem ist es namentlich Hedelin, der Abt von Aubignac, pwo_005.009 der bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts in Deutschland anerkannte pwo_005.010 Geltung, in erster Linie für theatralische Fragen, genießt. Auch sonst pwo_005.011 entfaltet jeder deutsche Beitrag zur Poetik bis in Lessings Tage eine pwo_005.012 bunte Musterkarte französischer Autoritäten. pwo_005.013 § 6. pwo_005.014 Spekulativ-dogmatische Poetik. pwo_005.015   Jnzwischen versucht die philosophische Spekulation selbständig ihre pwo_005.016 Schwingen. pwo_005.017   Neben Gottsched hergehend, unternehmen die Züricher Kunstrichter pwo_005.018 Bodmer und Breitinger die Begründung einer eigenen Kunstlehre pwo_005.019 aus der Phantasie. Obschon von eigenem Geiste durchdrungen, pwo_005.020 zeigen sich ihre (in der Hauptsache 1740 erschienenen) theoretischen pwo_005.021 Schriften in den Einzelfragen noch weithin von fremden Autoritäten pwo_005.022 abhängig. Nicht anders ergeht es Gottscheds hervorragendstem Schüler pwo_005.023 Johann Elias Schlegel, der (noch in den vierziger Jahren) das pwo_005.024 Verhältnis der Kunst zur Natur weniger sklavisch darstellen will. pwo_005.025   Begründer der ausgebildeten, geschlossen systematischen Theorie pwo_005.026 der Kunst auf spekulativer Grundlage wird indessen erst Alexander pwo_005.027 Baumgarten, dessen „Aesthetika“ (Band I: 1750, Band II: pwo_005.028 1758) der neuen Wissenschaft den Namen gab. Wie dieser Name pwo_005.029 sagt, sieht Baumgarten in ihr eine Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis, pwo_005.030 deren Vollkommenheit, die Schönheit, damit zum Prinzip pwo_005.031 der Kunst erhoben war. pwo_005.032   Seinen Ausgang nahm Baumgarten von der Philosophie Christian pwo_005.033 Wolfs, die weniger ihre Aufgabe in Ergründung des Welträtsels pwo_005.034 als in dem formalistischen Streben sah, Ordnung in die Uebersicht pwo_005.035 aller Gebiete des menschlichen Geistes zu bringen: so führte das

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/19
Zitationshilfe: Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 5. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/19>, abgerufen am 22.11.2024.