Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.

Bild:
<< vorherige Seite
pwo_162.001

do was mein vriedel komen e. pwo_162.002
da wart ich enpfangen, pwo_162.003
here vrouwe! pwo_162.004
daz ich bin saelic iemer me."

pwo_162.005

Nur mit dieser Wendung ist der äußere Vorgang auf die Gemütswirkung pwo_162.006
zugespitzt.

pwo_162.007

Neben solchen Blüten gegenständlicher Gefühlsvermittlung fehlt pwo_162.008
es aber nicht an zahlreichen ganz oder halb didaktischen Dichtungen. pwo_162.009
Wie Walther überhaupt viel sinnt und trachtet, spricht er auch direkte pwo_162.010
Lehren aus:

pwo_162.011

"Niemen kan mit gerten pwo_162.012
kindes zuht beherten ... pwo_162.013
Hüetet iuwer zungen: pwo_162.014
daz zimt wol den jungen"

pwo_162.015

u. a. Seine vielen politischen und kirchenpolitischen Dichtungen bewahren pwo_162.016
zwar noch weithin gegenständliche Zeichnung des Thatbestandes pwo_162.017
als Unterlage für eigenen Gefühlsausbruch; oft aber tönen sie wie pwo_162.018
zugespitzte Pfeile aus, die einem ferneren Ziele tendenziös zustreben, pwo_162.019
um zu bestimmten praktischen Zwecken fortzureißen, auch wohl um pwo_162.020
aus persönlichem Anlaß zu loben oder zu tadeln.

pwo_162.021
"Ir fürsten, die des küneges gerne waeren ane, pwo_162.022
die volgen meime rate: in rate in niht nach wane."
pwo_162.023

Besonders einstrophige Gedichte, die inzwischen den bezeichnenden pwo_162.024
Namen Spruch angenommen haben, sind die beliebte Form für die pwo_162.025
lyrische Tendenzdichtung.

pwo_162.026

Doch auch die Spruchdichtung sehen wir eine Entwicklung vom pwo_162.027
Gegenständlichen zum Abstrakten, vom Besonderen zum Allgemeinen pwo_162.028
durchmessen. Die ältesten Nummern der unter Spervogels Namen pwo_162.029
gehenden Sprüche sind im Stoff reich an persönlichen Geständnissen pwo_162.030
sowie im Stil an erzählender und bildkräftiger Darstellung.

pwo_162.031
"Ich sage iu, lieben süne mein, pwo_162.032
iun wahset korn noch der wein, pwo_162.033
ichn kan iu niht gezeigen pwo_162.034
diu lehen noch diu eigen."
pwo_162.035

Auf dieser thatsächlichen Grundlage erscheint der Wunsch berechtigt:

pwo_162.036
"Nau gnade iu got der guote, pwo_162.037
und gebe iu saelde unde heil."
pwo_162.001

was mîn vriedel komen ê. pwo_162.002
wart ich enpfangen, pwo_162.003
hêre vrouwe! pwo_162.004
daz ich bin sælic iemer mê.“

pwo_162.005

Nur mit dieser Wendung ist der äußere Vorgang auf die Gemütswirkung pwo_162.006
zugespitzt.

pwo_162.007

  Neben solchen Blüten gegenständlicher Gefühlsvermittlung fehlt pwo_162.008
es aber nicht an zahlreichen ganz oder halb didaktischen Dichtungen. pwo_162.009
Wie Walther überhaupt viel sinnt und trachtet, spricht er auch direkte pwo_162.010
Lehren aus:

pwo_162.011

„Niemen kan mit gerten pwo_162.012
kindes zuht beherten ... pwo_162.013
  Hüetet iuwer zungen: pwo_162.014
daz zimt wol den jungen“

pwo_162.015

u. a. Seine vielen politischen und kirchenpolitischen Dichtungen bewahren pwo_162.016
zwar noch weithin gegenständliche Zeichnung des Thatbestandes pwo_162.017
als Unterlage für eigenen Gefühlsausbruch; oft aber tönen sie wie pwo_162.018
zugespitzte Pfeile aus, die einem ferneren Ziele tendenziös zustreben, pwo_162.019
um zu bestimmten praktischen Zwecken fortzureißen, auch wohl um pwo_162.020
aus persönlichem Anlaß zu loben oder zu tadeln.

pwo_162.021
Ir fürsten, die des küneges gerne wæren âne, pwo_162.022
die volgen mîme râte: in râte in niht nâch wâne.“
pwo_162.023

Besonders einstrophige Gedichte, die inzwischen den bezeichnenden pwo_162.024
Namen Spruch angenommen haben, sind die beliebte Form für die pwo_162.025
lyrische Tendenzdichtung.

pwo_162.026

  Doch auch die Spruchdichtung sehen wir eine Entwicklung vom pwo_162.027
Gegenständlichen zum Abstrakten, vom Besonderen zum Allgemeinen pwo_162.028
durchmessen. Die ältesten Nummern der unter Spervogels Namen pwo_162.029
gehenden Sprüche sind im Stoff reich an persönlichen Geständnissen pwo_162.030
sowie im Stil an erzählender und bildkräftiger Darstellung.

pwo_162.031
Ich sage iu, lieben süne mîn, pwo_162.032
iun wahset korn noch der wîn, pwo_162.033
ichn kan iu niht gezeigen pwo_162.034
diu lêhen noch diu eigen.“
pwo_162.035

Auf dieser thatsächlichen Grundlage erscheint der Wunsch berechtigt:

pwo_162.036
Nû gnâde iu got der guote, pwo_162.037
und gebe iu sælde unde heil.“
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0176" n="162"/>
            <lb n="pwo_162.001"/>
            <p> <hi rendition="#aq">
                <lg>
                  <l><hi rendition="#g">was</hi> mîn vriedel komen ê.</l>
                  <lb n="pwo_162.002"/>
                  <l><hi rendition="#g">wart</hi> ich enpfangen,</l>
                  <lb n="pwo_162.003"/>
                  <l>hêre vrouwe!</l>
                  <lb n="pwo_162.004"/>
                  <l>daz ich bin sælic iemer mê.&#x201C;</l>
                </lg>
              </hi> </p>
            <lb n="pwo_162.005"/>
            <p>Nur mit dieser Wendung ist der äußere Vorgang auf die <hi rendition="#g">Gemütswirkung</hi> <lb n="pwo_162.006"/>
zugespitzt.</p>
            <lb n="pwo_162.007"/>
            <p>  Neben solchen Blüten gegenständlicher Gefühlsvermittlung fehlt <lb n="pwo_162.008"/>
es aber nicht an zahlreichen ganz oder halb didaktischen Dichtungen. <lb n="pwo_162.009"/>
Wie Walther überhaupt viel sinnt und trachtet, spricht er auch direkte <lb n="pwo_162.010"/>
Lehren aus:</p>
            <lb n="pwo_162.011"/>
            <p> <hi rendition="#aq">
                <lg>
                  <l>&#x201E;Niemen kan mit gerten</l>
                  <lb n="pwo_162.012"/>
                  <l>kindes zuht beherten ...</l>
                  <lb n="pwo_162.013"/>
                  <l>  Hüetet iuwer zungen:</l>
                  <lb n="pwo_162.014"/>
                  <l>daz zimt wol den jungen&#x201C;</l>
                </lg>
              </hi> </p>
            <lb n="pwo_162.015"/>
            <p>u. a. Seine vielen politischen und kirchenpolitischen Dichtungen bewahren <lb n="pwo_162.016"/>
zwar noch weithin gegenständliche Zeichnung des Thatbestandes <lb n="pwo_162.017"/>
als Unterlage für eigenen Gefühlsausbruch; oft aber tönen sie wie <lb n="pwo_162.018"/>
zugespitzte Pfeile aus, die einem ferneren Ziele tendenziös zustreben, <lb n="pwo_162.019"/>
um zu bestimmten praktischen Zwecken fortzureißen, auch wohl um <lb n="pwo_162.020"/>
aus persönlichem Anlaß zu loben oder zu tadeln.</p>
            <lb n="pwo_162.021"/>
            <lg>
              <l>&#x201E;<hi rendition="#aq">Ir fürsten, die des küneges gerne wæren âne,</hi></l>
              <lb n="pwo_162.022"/>
              <l><hi rendition="#aq">die volgen mîme râte: in râte in niht nâch wâne</hi>.&#x201C;</l>
            </lg>
            <lb n="pwo_162.023"/>
            <p>Besonders einstrophige Gedichte, die inzwischen den bezeichnenden <lb n="pwo_162.024"/>
Namen <hi rendition="#g">Spruch</hi> angenommen haben, sind die beliebte Form für die <lb n="pwo_162.025"/>
lyrische Tendenzdichtung.</p>
            <lb n="pwo_162.026"/>
            <p>  Doch auch die Spruchdichtung sehen wir eine Entwicklung vom <lb n="pwo_162.027"/>
Gegenständlichen zum Abstrakten, vom Besonderen zum Allgemeinen <lb n="pwo_162.028"/>
durchmessen. Die ältesten Nummern der unter Spervogels Namen <lb n="pwo_162.029"/>
gehenden Sprüche sind im Stoff reich an persönlichen Geständnissen <lb n="pwo_162.030"/>
sowie im Stil an erzählender und bildkräftiger Darstellung.</p>
            <lb n="pwo_162.031"/>
            <lg>
              <l>&#x201E;<hi rendition="#aq">Ich sage iu, lieben süne mîn,</hi></l>
              <lb n="pwo_162.032"/>
              <l> <hi rendition="#aq">iun wahset korn noch der wîn,</hi> </l>
              <lb n="pwo_162.033"/>
              <l> <hi rendition="#aq">ichn kan iu niht gezeigen</hi> </l>
              <lb n="pwo_162.034"/>
              <l><hi rendition="#aq">diu lêhen noch diu eigen</hi>.&#x201C;</l>
            </lg>
            <lb n="pwo_162.035"/>
            <p>Auf dieser thatsächlichen Grundlage erscheint der Wunsch berechtigt:</p>
            <lb n="pwo_162.036"/>
            <lg>
              <l>&#x201E;<hi rendition="#aq">Nû gnâde iu got der guote,</hi></l>
              <lb n="pwo_162.037"/>
              <l><hi rendition="#aq">und gebe iu sælde unde heil</hi>.&#x201C;</l>
            </lg>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[162/0176] pwo_162.001 dô was mîn vriedel komen ê. pwo_162.002 dâ wart ich enpfangen, pwo_162.003 hêre vrouwe! pwo_162.004 daz ich bin sælic iemer mê.“ pwo_162.005 Nur mit dieser Wendung ist der äußere Vorgang auf die Gemütswirkung pwo_162.006 zugespitzt. pwo_162.007   Neben solchen Blüten gegenständlicher Gefühlsvermittlung fehlt pwo_162.008 es aber nicht an zahlreichen ganz oder halb didaktischen Dichtungen. pwo_162.009 Wie Walther überhaupt viel sinnt und trachtet, spricht er auch direkte pwo_162.010 Lehren aus: pwo_162.011 „Niemen kan mit gerten pwo_162.012 kindes zuht beherten ... pwo_162.013   Hüetet iuwer zungen: pwo_162.014 daz zimt wol den jungen“ pwo_162.015 u. a. Seine vielen politischen und kirchenpolitischen Dichtungen bewahren pwo_162.016 zwar noch weithin gegenständliche Zeichnung des Thatbestandes pwo_162.017 als Unterlage für eigenen Gefühlsausbruch; oft aber tönen sie wie pwo_162.018 zugespitzte Pfeile aus, die einem ferneren Ziele tendenziös zustreben, pwo_162.019 um zu bestimmten praktischen Zwecken fortzureißen, auch wohl um pwo_162.020 aus persönlichem Anlaß zu loben oder zu tadeln. pwo_162.021 „Ir fürsten, die des küneges gerne wæren âne, pwo_162.022 die volgen mîme râte: in râte in niht nâch wâne.“ pwo_162.023 Besonders einstrophige Gedichte, die inzwischen den bezeichnenden pwo_162.024 Namen Spruch angenommen haben, sind die beliebte Form für die pwo_162.025 lyrische Tendenzdichtung. pwo_162.026   Doch auch die Spruchdichtung sehen wir eine Entwicklung vom pwo_162.027 Gegenständlichen zum Abstrakten, vom Besonderen zum Allgemeinen pwo_162.028 durchmessen. Die ältesten Nummern der unter Spervogels Namen pwo_162.029 gehenden Sprüche sind im Stoff reich an persönlichen Geständnissen pwo_162.030 sowie im Stil an erzählender und bildkräftiger Darstellung. pwo_162.031 „Ich sage iu, lieben süne mîn, pwo_162.032 iun wahset korn noch der wîn, pwo_162.033 ichn kan iu niht gezeigen pwo_162.034 diu lêhen noch diu eigen.“ pwo_162.035 Auf dieser thatsächlichen Grundlage erscheint der Wunsch berechtigt: pwo_162.036 „Nû gnâde iu got der guote, pwo_162.037 und gebe iu sælde unde heil.“

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/176
Zitationshilfe: Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 162. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/176>, abgerufen am 24.11.2024.