Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.pwo_146.001 An diese dürftigen äußeren Zeugnisse reiht man nun innere pwo_146.002 Nun lebt gewiß gerade der kulturlose Mensch im Augenblick: pwo_146.017 pwo_146.001 An diese dürftigen äußeren Zeugnisse reiht man nun innere pwo_146.002 Nun lebt gewiß gerade der kulturlose Mensch im Augenblick: pwo_146.017 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0160" n="146"/> <lb n="pwo_146.001"/> <p> An diese dürftigen äußeren Zeugnisse reiht man nun innere <lb n="pwo_146.002"/> Gründe, um das Vorhandensein und die allgemeine Ausbreitung einer <lb n="pwo_146.003"/> volkstümlichen Lyrik annehmbar erscheinen zu lassen. Zwar die Analogie <lb n="pwo_146.004"/> der heutigen sogenannten Naturvölker wäre aus uns schon bekannten <lb n="pwo_146.005"/> Gründen nicht von beweisender Kraft. Auch die Unterstellung <lb n="pwo_146.006"/> bleibt grundlos, daß die Leugnung einer solchen ursprünglichen Lyrik <lb n="pwo_146.007"/> das deutsche Volk vor dem 12. Jahrhundert auf eine unter den Wilden <lb n="pwo_146.008"/> stehende Kulturstufe herabdrücken hieße: man sollte die Jahrtausende <lb n="pwo_146.009"/> lange Vergangenheit, die auch hinter diesen Stämmen liegt, <lb n="pwo_146.010"/> nicht vergessen; andererseits in Anschlag bringen, wie gerade die <lb n="pwo_146.011"/> Kulturvölker, welche alle geistigen Keime zur Reife bringen, eine langsame, <lb n="pwo_146.012"/> aber um so gediegenere Entwicklung durchlaufen. Die Entwicklung <lb n="pwo_146.013"/> niedrigerer Menschenracen reift wie bekanntlich die der Tiere <lb n="pwo_146.014"/> schneller, um indes alsbald zu verkrüppeln (man vergleiche z. B. Hund <lb n="pwo_146.015"/> und Menschenkind von ½ Jahr, dann aber nach 3 Jahren).</p> <lb n="pwo_146.016"/> <p> Nun lebt gewiß gerade der kulturlose Mensch im Augenblick: <lb n="pwo_146.017"/> aber wir werden überall zu der Auffassung hingedrängt, daß die <lb n="pwo_146.018"/> Poesie erst ein Geschenk der Kultur sei; erst wenn die Ehrfurcht vor <lb n="pwo_146.019"/> dem, was über, und vor dem, was vor uns ist, zum Durchbruch <lb n="pwo_146.020"/> gekommen, erst dann ist der Mensch so weitgehender Seelenvertiefung <lb n="pwo_146.021"/> fähig, wie sie alle Poesie voraussetzt. Daß die Poesie als Liebeslyrik <lb n="pwo_146.022"/> erwacht und daß „die Fähigkeit, seine Liebe mitzuteilen im Gesange, <lb n="pwo_146.023"/> in diesem Zustande <hi rendition="#g">so verbreitet wie die Fähigkeit zu <lb n="pwo_146.024"/> lieben</hi>“ gewesen (wie Konrad Burdach im 27. Band der Zeitschrift <lb n="pwo_146.025"/> für deutsches Altertum meint), charakterisiert sich als ein Ausfluß rein <lb n="pwo_146.026"/> materialistischer Auffassung, für welche jede Erfahrungsgrundlage fehlt, <lb n="pwo_146.027"/> ja der alle Erfahrung widerspricht. Abgesehen von der Absurdität <lb n="pwo_146.028"/> dieser (in Wilhelm Scherers Poetik übernommenen) Hypothese, äußert <lb n="pwo_146.029"/> sich darin noch eine Nachwirkung von dem schönen, aber historisch unhaltbaren <lb n="pwo_146.030"/> Traum des 18. Jahrhunderts, wonach das Paradies der <lb n="pwo_146.031"/> Menschheit erst mit dem Beginn der Kultur verloren gegangen sei. <lb n="pwo_146.032"/> Ursprünglich wären danach alle Menschen Dichter gewesen, und erst <lb n="pwo_146.033"/> fortschreitende Kultur hätte diese Fähigkeit auf Auserwählte aus dem <lb n="pwo_146.034"/> führenden, die Bildung tragenden Stand beschränkt! Jm ganzen Verlauf <lb n="pwo_146.035"/> der geschichtlichen Betrachtung trat uns das diametrale Gegenteil <lb n="pwo_146.036"/> als Thatsache entgegen.</p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [146/0160]
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An diese dürftigen äußeren Zeugnisse reiht man nun innere pwo_146.002
Gründe, um das Vorhandensein und die allgemeine Ausbreitung einer pwo_146.003
volkstümlichen Lyrik annehmbar erscheinen zu lassen. Zwar die Analogie pwo_146.004
der heutigen sogenannten Naturvölker wäre aus uns schon bekannten pwo_146.005
Gründen nicht von beweisender Kraft. Auch die Unterstellung pwo_146.006
bleibt grundlos, daß die Leugnung einer solchen ursprünglichen Lyrik pwo_146.007
das deutsche Volk vor dem 12. Jahrhundert auf eine unter den Wilden pwo_146.008
stehende Kulturstufe herabdrücken hieße: man sollte die Jahrtausende pwo_146.009
lange Vergangenheit, die auch hinter diesen Stämmen liegt, pwo_146.010
nicht vergessen; andererseits in Anschlag bringen, wie gerade die pwo_146.011
Kulturvölker, welche alle geistigen Keime zur Reife bringen, eine langsame, pwo_146.012
aber um so gediegenere Entwicklung durchlaufen. Die Entwicklung pwo_146.013
niedrigerer Menschenracen reift wie bekanntlich die der Tiere pwo_146.014
schneller, um indes alsbald zu verkrüppeln (man vergleiche z. B. Hund pwo_146.015
und Menschenkind von ½ Jahr, dann aber nach 3 Jahren).
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Nun lebt gewiß gerade der kulturlose Mensch im Augenblick: pwo_146.017
aber wir werden überall zu der Auffassung hingedrängt, daß die pwo_146.018
Poesie erst ein Geschenk der Kultur sei; erst wenn die Ehrfurcht vor pwo_146.019
dem, was über, und vor dem, was vor uns ist, zum Durchbruch pwo_146.020
gekommen, erst dann ist der Mensch so weitgehender Seelenvertiefung pwo_146.021
fähig, wie sie alle Poesie voraussetzt. Daß die Poesie als Liebeslyrik pwo_146.022
erwacht und daß „die Fähigkeit, seine Liebe mitzuteilen im Gesange, pwo_146.023
in diesem Zustande so verbreitet wie die Fähigkeit zu pwo_146.024
lieben“ gewesen (wie Konrad Burdach im 27. Band der Zeitschrift pwo_146.025
für deutsches Altertum meint), charakterisiert sich als ein Ausfluß rein pwo_146.026
materialistischer Auffassung, für welche jede Erfahrungsgrundlage fehlt, pwo_146.027
ja der alle Erfahrung widerspricht. Abgesehen von der Absurdität pwo_146.028
dieser (in Wilhelm Scherers Poetik übernommenen) Hypothese, äußert pwo_146.029
sich darin noch eine Nachwirkung von dem schönen, aber historisch unhaltbaren pwo_146.030
Traum des 18. Jahrhunderts, wonach das Paradies der pwo_146.031
Menschheit erst mit dem Beginn der Kultur verloren gegangen sei. pwo_146.032
Ursprünglich wären danach alle Menschen Dichter gewesen, und erst pwo_146.033
fortschreitende Kultur hätte diese Fähigkeit auf Auserwählte aus dem pwo_146.034
führenden, die Bildung tragenden Stand beschränkt! Jm ganzen Verlauf pwo_146.035
der geschichtlichen Betrachtung trat uns das diametrale Gegenteil pwo_146.036
als Thatsache entgegen.
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