Aus welchen Quellen leiteten sich diese Regeln her? Sie fußten pwo_002.002 auf Aussprüchen angesehener Kunstrichter des Altertums, das in der pwo_002.003 Entstehungszeit der deutschen und überhaupt der modernen Poetik, im pwo_002.004 Zeitalter der Renaissance, als unbedingte Autorität in Fragen der pwo_002.005 Kunst galt.
Wie die Renaissance sich überall enger an die Vermittlung der pwo_002.009 Römer als an die griechischen Quellen der antiken Kunst anschloß, pwo_002.010 war es zunächst Horaz, dessen Epistel an die Pisonen, ursprünglich pwo_002.011 ein Gelegenheitsgedicht, zum Rang einer Poetik erhoben wurde. pwo_002.012 Ohne Vollständigkeit zu erstreben oder auch nur das Wesen der Dichtkunst pwo_002.013 in den Vordergrund stellen zu wollen, ging Horaz davon aus, pwo_002.014 daß zu den Erfordernissen des vollendeten Dichters nicht bloß Begabung pwo_002.015 gehöre, die er als selbstverständlich erwähnt, sondern auch pwo_002.016 treue Beobachtung behufs Nachahmung der Wirklichkeit, ferner Studium pwo_002.017 und zur Erreichung formeller Meisterschaft Uebung, ebenso pwo_002.018 Fähigkeit zu einheitlicher Ordnung der Gedanken, schließlich eine Reihe pwo_002.019 besonderer Eigenschaften namentlich für die dramatische Poesie. Jhm pwo_002.020 war es vor allem darum zu thun, eine in seiner Zeit eingerissene schwindelhafte pwo_002.021 Liederlichkeit zu geißeln, die - wie zu manchen Zeiten sonst - pwo_002.022 prätendierte, daß Talent sowohl den Charakterhalt als Studium und pwo_002.023 formelle Durchbildung ersetzen könne. Jndem die Renaissance-Poetik pwo_002.024 diese Beziehung der Epistel außer acht ließ, wurde der kunstmäßigen pwo_002.025 Form, die Horaz neben der Begabung zur Geltung bringen wollte, pwo_002.026 entscheidender Wert und breitester Raum gewährt, und jede gelegentliche pwo_002.027 Aeußerung dieser römischen Satire zum Kanon erhoben.
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Gewiß ist auch in der frühesten modernen Poetik schon eine pwo_002.029 selbständige Bethätigung zu verspüren: aber sie beschränkte sich in Ergründung pwo_002.030 des poetischen Wesens gerade darauf, einseitig diejenigen pwo_002.031 Punkte herauszugreifen, die dem eigenen lehrhaften und formalistischen pwo_002.032 Geiste Raum zu bieten schienen. "Entweder nützen oder ergötzen pwo_002.033 wollen die Dichter oder zugleich beides, das Angenehme und Nützliche pwo_002.034 des Lebens, zur Aussprache bringen": solche gelegentliche Feststellung pwo_002.035 ward als Begriffsbestimmung der Poesie ausgegeben, überdies mit
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Aus welchen Quellen leiteten sich diese Regeln her? Sie fußten pwo_002.002 auf Aussprüchen angesehener Kunstrichter des Altertums, das in der pwo_002.003 Entstehungszeit der deutschen und überhaupt der modernen Poetik, im pwo_002.004 Zeitalter der Renaissance, als unbedingte Autorität in Fragen der pwo_002.005 Kunst galt.
Wie die Renaissance sich überall enger an die Vermittlung der pwo_002.009 Römer als an die griechischen Quellen der antiken Kunst anschloß, pwo_002.010 war es zunächst Horaz, dessen Epistel an die Pisonen, ursprünglich pwo_002.011 ein Gelegenheitsgedicht, zum Rang einer Poetik erhoben wurde. pwo_002.012 Ohne Vollständigkeit zu erstreben oder auch nur das Wesen der Dichtkunst pwo_002.013 in den Vordergrund stellen zu wollen, ging Horaz davon aus, pwo_002.014 daß zu den Erfordernissen des vollendeten Dichters nicht bloß Begabung pwo_002.015 gehöre, die er als selbstverständlich erwähnt, sondern auch pwo_002.016 treue Beobachtung behufs Nachahmung der Wirklichkeit, ferner Studium pwo_002.017 und zur Erreichung formeller Meisterschaft Uebung, ebenso pwo_002.018 Fähigkeit zu einheitlicher Ordnung der Gedanken, schließlich eine Reihe pwo_002.019 besonderer Eigenschaften namentlich für die dramatische Poesie. Jhm pwo_002.020 war es vor allem darum zu thun, eine in seiner Zeit eingerissene schwindelhafte pwo_002.021 Liederlichkeit zu geißeln, die – wie zu manchen Zeiten sonst – pwo_002.022 prätendierte, daß Talent sowohl den Charakterhalt als Studium und pwo_002.023 formelle Durchbildung ersetzen könne. Jndem die Renaissance-Poetik pwo_002.024 diese Beziehung der Epistel außer acht ließ, wurde der kunstmäßigen pwo_002.025 Form, die Horaz neben der Begabung zur Geltung bringen wollte, pwo_002.026 entscheidender Wert und breitester Raum gewährt, und jede gelegentliche pwo_002.027 Aeußerung dieser römischen Satire zum Kanon erhoben.
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Gewiß ist auch in der frühesten modernen Poetik schon eine pwo_002.029 selbständige Bethätigung zu verspüren: aber sie beschränkte sich in Ergründung pwo_002.030 des poetischen Wesens gerade darauf, einseitig diejenigen pwo_002.031 Punkte herauszugreifen, die dem eigenen lehrhaften und formalistischen pwo_002.032 Geiste Raum zu bieten schienen. „Entweder nützen oder ergötzen pwo_002.033 wollen die Dichter oder zugleich beides, das Angenehme und Nützliche pwo_002.034 des Lebens, zur Aussprache bringen“: solche gelegentliche Feststellung pwo_002.035 ward als Begriffsbestimmung der Poesie ausgegeben, überdies mit
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Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 2. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/16>, abgerufen am 27.07.2024.
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