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Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.

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Aeußerungsformen der Seelenkämpfe und geistigen Entwicklung. Diese pwo_112.002
aber prägen sich mit so unmittelbarer Wahrheit aus, daß ihr Herauswachsen pwo_112.003
aus dem Leben augenscheinlich wird und ihnen sogar eine pwo_112.004
Rückwirkung auf das Leben der Zeit zuzuschreiben ist.

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Von dem ursprünglichen Begriff des Romanhaften, pwo_112.006
von seinem fremdartigen, unnatürlich phantastischen Charakter hat pwo_112.007
sich damit der Roman grundsätzlich entfernt.
Die Entwicklung pwo_112.008
des deutschen Romans im 19. Jahrhundert giebt dieser litterarischen pwo_112.009
Gattung vollends einen realistischen Zug in Stoff und Stil. pwo_112.010
Der moderne Roman ist überwiegend Zeitdichtung geworden, auf Erzählung pwo_112.011
unmittelbar verflossener Ereignisse gerichtet. Seit Otto Ludwig, pwo_112.012
Gottfried Keller und gar Theodor Fontane treten freilich die pwo_112.013
äußeren Ereignisse hinter der Charakterzeichnung mehr und mehr zurück; pwo_112.014
aber die Ausmalung geschieht in einem Stil der Thatsachen mit pwo_112.015
aller behaglichen Breite und plastischen Anschaulichkeit. Jst somit auch pwo_112.016
der erzählende Kern in den Hintergrund gedrängt, nimmt doch die pwo_112.017
wirkliche Dichtung auf dem Gebiete des Romans an der Verflüchtigung pwo_112.018
des Versepos durchaus nicht teil, findet vielmehr einen neuen pwo_112.019
festen Gehalt in organischer Verbindung charakteristischer Episoden, in pwo_112.020
bildkräftig anschaulicher Zeichnung von Jndividuen eines ganzen Lebenskreises. pwo_112.021
Die Entwicklung des epischen Stils verschwimmt pwo_112.022
hier nicht mehr in lyrische Reflexion: sie nähert sich dramatischer pwo_112.023
Charakteristik.
Und dieser ursprünglich germanische pwo_112.024
Zug griff auf die romanischen Litteraturen über. -

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Wir sahen bereits anfangs dem umfassenden Buchwerk, wie es pwo_112.026
uns im Roman entgegentritt, kleinere Erzählungen vorangehen, pwo_112.027
die sich mündlich knapp wiedergeben lassen. Auch sie gelangten zu pwo_112.028
künstlerischer Ausbildung. Zwar geht ein reicher Schatz von ihnen pwo_112.029
bis in die alte Welt zurück und ward in meist lateinischen Aufzeichnungen pwo_112.030
dem Mittelalter bereits überliefert. Aber man spricht von pwo_112.031
einer eigenen Kunstform solcher kurzen Geschichten unter dem Namen pwo_112.032
Novelle erst seit der Wende des 13. und 14. Jahrhunderts, nachdem pwo_112.033
diese Bezeichnung in Jtalien für kleine neue Geschichten - wie pwo_112.034
schon der Name sagt - aufgekommen war. Bald erstand dieser pwo_112.035
Gattung in Boccaccio ihr Klassiker. Der geringe Umfang bedingt pwo_112.036
im Gegensatz zum Roman, daß die Novelle auf ein ausgeführteres

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Aeußerungsformen der Seelenkämpfe und geistigen Entwicklung. Diese pwo_112.002
aber prägen sich mit so unmittelbarer Wahrheit aus, daß ihr Herauswachsen pwo_112.003
aus dem Leben augenscheinlich wird und ihnen sogar eine pwo_112.004
Rückwirkung auf das Leben der Zeit zuzuschreiben ist.

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  Von dem ursprünglichen Begriff des Romanhaften, pwo_112.006
von seinem fremdartigen, unnatürlich phantastischen Charakter hat pwo_112.007
sich damit der Roman grundsätzlich entfernt.
Die Entwicklung pwo_112.008
des deutschen Romans im 19. Jahrhundert giebt dieser litterarischen pwo_112.009
Gattung vollends einen realistischen Zug in Stoff und Stil. pwo_112.010
Der moderne Roman ist überwiegend Zeitdichtung geworden, auf Erzählung pwo_112.011
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Gottfried Keller und gar Theodor Fontane treten freilich die pwo_112.013
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der erzählende Kern in den Hintergrund gedrängt, nimmt doch die pwo_112.017
wirkliche Dichtung auf dem Gebiete des Romans an der Verflüchtigung pwo_112.018
des Versepos durchaus nicht teil, findet vielmehr einen neuen pwo_112.019
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bildkräftig anschaulicher Zeichnung von Jndividuen eines ganzen Lebenskreises. pwo_112.021
Die Entwicklung des epischen Stils verschwimmt pwo_112.022
hier nicht mehr in lyrische Reflexion: sie nähert sich dramatischer pwo_112.023
Charakteristik.
Und dieser ursprünglich germanische pwo_112.024
Zug griff auf die romanischen Litteraturen über. –

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  Wir sahen bereits anfangs dem umfassenden Buchwerk, wie es pwo_112.026
uns im Roman entgegentritt, kleinere Erzählungen vorangehen, pwo_112.027
die sich mündlich knapp wiedergeben lassen. Auch sie gelangten zu pwo_112.028
künstlerischer Ausbildung. Zwar geht ein reicher Schatz von ihnen pwo_112.029
bis in die alte Welt zurück und ward in meist lateinischen Aufzeichnungen pwo_112.030
dem Mittelalter bereits überliefert. Aber man spricht von pwo_112.031
einer eigenen Kunstform solcher kurzen Geschichten unter dem Namen pwo_112.032
Novelle erst seit der Wende des 13. und 14. Jahrhunderts, nachdem pwo_112.033
diese Bezeichnung in Jtalien für kleine neue Geschichten – wie pwo_112.034
schon der Name sagt – aufgekommen war. Bald erstand dieser pwo_112.035
Gattung in Boccaccio ihr Klassiker. Der geringe Umfang bedingt pwo_112.036
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[112/0126] pwo_112.001 Aeußerungsformen der Seelenkämpfe und geistigen Entwicklung. Diese pwo_112.002 aber prägen sich mit so unmittelbarer Wahrheit aus, daß ihr Herauswachsen pwo_112.003 aus dem Leben augenscheinlich wird und ihnen sogar eine pwo_112.004 Rückwirkung auf das Leben der Zeit zuzuschreiben ist. pwo_112.005   Von dem ursprünglichen Begriff des Romanhaften, pwo_112.006 von seinem fremdartigen, unnatürlich phantastischen Charakter hat pwo_112.007 sich damit der Roman grundsätzlich entfernt. Die Entwicklung pwo_112.008 des deutschen Romans im 19. Jahrhundert giebt dieser litterarischen pwo_112.009 Gattung vollends einen realistischen Zug in Stoff und Stil. pwo_112.010 Der moderne Roman ist überwiegend Zeitdichtung geworden, auf Erzählung pwo_112.011 unmittelbar verflossener Ereignisse gerichtet. Seit Otto Ludwig, pwo_112.012 Gottfried Keller und gar Theodor Fontane treten freilich die pwo_112.013 äußeren Ereignisse hinter der Charakterzeichnung mehr und mehr zurück; pwo_112.014 aber die Ausmalung geschieht in einem Stil der Thatsachen mit pwo_112.015 aller behaglichen Breite und plastischen Anschaulichkeit. Jst somit auch pwo_112.016 der erzählende Kern in den Hintergrund gedrängt, nimmt doch die pwo_112.017 wirkliche Dichtung auf dem Gebiete des Romans an der Verflüchtigung pwo_112.018 des Versepos durchaus nicht teil, findet vielmehr einen neuen pwo_112.019 festen Gehalt in organischer Verbindung charakteristischer Episoden, in pwo_112.020 bildkräftig anschaulicher Zeichnung von Jndividuen eines ganzen Lebenskreises. pwo_112.021 Die Entwicklung des epischen Stils verschwimmt pwo_112.022 hier nicht mehr in lyrische Reflexion: sie nähert sich dramatischer pwo_112.023 Charakteristik. Und dieser ursprünglich germanische pwo_112.024 Zug griff auf die romanischen Litteraturen über. – pwo_112.025   Wir sahen bereits anfangs dem umfassenden Buchwerk, wie es pwo_112.026 uns im Roman entgegentritt, kleinere Erzählungen vorangehen, pwo_112.027 die sich mündlich knapp wiedergeben lassen. Auch sie gelangten zu pwo_112.028 künstlerischer Ausbildung. Zwar geht ein reicher Schatz von ihnen pwo_112.029 bis in die alte Welt zurück und ward in meist lateinischen Aufzeichnungen pwo_112.030 dem Mittelalter bereits überliefert. Aber man spricht von pwo_112.031 einer eigenen Kunstform solcher kurzen Geschichten unter dem Namen pwo_112.032 Novelle erst seit der Wende des 13. und 14. Jahrhunderts, nachdem pwo_112.033 diese Bezeichnung in Jtalien für kleine neue Geschichten – wie pwo_112.034 schon der Name sagt – aufgekommen war. Bald erstand dieser pwo_112.035 Gattung in Boccaccio ihr Klassiker. Der geringe Umfang bedingt pwo_112.036 im Gegensatz zum Roman, daß die Novelle auf ein ausgeführteres

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Zitationshilfe: Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 112. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/126>, abgerufen am 27.11.2024.