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Wolff, Christian von: Vernünfftige Gedancken von dem Gesellschaftlichen Leben der Menschen. Halle (Saale), 1721.

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des gemeinen Wesens.
finden und in Ordnung bringen soll (§.lung der
Wahr-
heit zu
verhal-
ten.

300); so muß sie sich enthalten von al-
lem, was aus willkührlich angenomme-
nen Gründen geschlossen wird und lieber
den Grund ausgesetzet lassen, wen sie ihn
nicht erreichen kan, als nach eigenem
Gutdüncken erdichten. Denn dergleichen
erdichtete Gründe halten den Fortgang
der Wahrheit auf, theils weil man nicht
weiter nachsuchet, was man schon zu ha-
ben vermeinet, theils weil man nicht e-
her weiter daraus etwas sicher schliessen
kan, bis die Gründe in Richtigkeit gese-
tzet worden. Derowegen muß sie nicht e-
her eine Wahrheit in ihre Sammlung
nehmen und im Nachdencken als einen
Grund andere daraus zu schliessen brau-
chen, biß sie dieselbe entweder in der Er-
fahrung gegründet befunden, oder durch
einen unumbstößlichen Beweis bestätigen
kan: Wozu die Regeln dienen, die ich
in den Gedancken von den Kräfften des
Verstandes erkläret und zur Untersuchung
der Wahrheit zu gebrauchen in dem 9.
Capitel angewiesen habe.

§. 304.

Derowegen muß man ihr kei-Sie muß
Freyheit
haben die
Wahr-
heit zube-
kennen.

ne Meinung als Wahrheiten aufdringen,
noch sie an die Lehren gewisser Weltwei-
sen und anderer Gelehrten binden, daß
sie ihre Erfindungen denen gemäß einrich-
ten; sondern ihr vielmehr völlige Frey-

heit

des gemeinen Weſens.
finden und in Ordnung bringen ſoll (§.lung der
Wahr-
heit zu
verhal-
ten.

300); ſo muß ſie ſich enthalten von al-
lem, was aus willkuͤhrlich angenomme-
nen Gruͤnden geſchloſſen wird und lieber
den Grund ausgeſetzet laſſen, wen ſie ihn
nicht erreichen kan, als nach eigenem
Gutduͤncken erdichten. Denn dergleichen
erdichtete Gruͤnde halten den Fortgang
der Wahrheit auf, theils weil man nicht
weiter nachſuchet, was man ſchon zu ha-
ben vermeinet, theils weil man nicht e-
her weiter daraus etwas ſicher ſchlieſſen
kan, bis die Gruͤnde in Richtigkeit geſe-
tzet worden. Derowegen muß ſie nicht e-
her eine Wahrheit in ihre Sammlung
nehmen und im Nachdencken als einen
Grund andere daraus zu ſchlieſſen brau-
chen, biß ſie dieſelbe entweder in der Er-
fahrung gegruͤndet befunden, oder durch
einen unumbſtoͤßlichen Beweis beſtaͤtigen
kan: Wozu die Regeln dienen, die ich
in den Gedancken von den Kraͤfften des
Verſtandes erklaͤret und zur Unterſuchung
der Wahrheit zu gebrauchen in dem 9.
Capitel angewieſen habe.

§. 304.

Derowegen muß man ihr kei-Sie muß
Freyheit
haben die
Wahr-
heit zube-
kennen.

ne Meinung als Wahrheiten aufdringen,
noch ſie an die Lehren gewiſſer Weltwei-
ſen und anderer Gelehrten binden, daß
ſie ihre Erfindungen denen gemaͤß einrich-
ten; ſondern ihr vielmehr voͤllige Frey-

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[239/0257] des gemeinen Weſens. finden und in Ordnung bringen ſoll (§. 300); ſo muß ſie ſich enthalten von al- lem, was aus willkuͤhrlich angenomme- nen Gruͤnden geſchloſſen wird und lieber den Grund ausgeſetzet laſſen, wen ſie ihn nicht erreichen kan, als nach eigenem Gutduͤncken erdichten. Denn dergleichen erdichtete Gruͤnde halten den Fortgang der Wahrheit auf, theils weil man nicht weiter nachſuchet, was man ſchon zu ha- ben vermeinet, theils weil man nicht e- her weiter daraus etwas ſicher ſchlieſſen kan, bis die Gruͤnde in Richtigkeit geſe- tzet worden. Derowegen muß ſie nicht e- her eine Wahrheit in ihre Sammlung nehmen und im Nachdencken als einen Grund andere daraus zu ſchlieſſen brau- chen, biß ſie dieſelbe entweder in der Er- fahrung gegruͤndet befunden, oder durch einen unumbſtoͤßlichen Beweis beſtaͤtigen kan: Wozu die Regeln dienen, die ich in den Gedancken von den Kraͤfften des Verſtandes erklaͤret und zur Unterſuchung der Wahrheit zu gebrauchen in dem 9. Capitel angewieſen habe. lung der Wahr- heit zu verhal- ten. §. 304.Derowegen muß man ihr kei- ne Meinung als Wahrheiten aufdringen, noch ſie an die Lehren gewiſſer Weltwei- ſen und anderer Gelehrten binden, daß ſie ihre Erfindungen denen gemaͤß einrich- ten; ſondern ihr vielmehr voͤllige Frey- heit Sie muß Freyheit haben die Wahr- heit zube- kennen.

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Zitationshilfe: Wolff, Christian von: Vernünfftige Gedancken von dem Gesellschaftlichen Leben der Menschen. Halle (Saale), 1721, S. 239. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_gesellschaftlichesleben_1721/257>, abgerufen am 07.05.2024.