Die ältesten Nachrichten lehren uns, daß die ersten Figuren vorgestellet, was ein Mensch ist, nicht wie er uns erscheint, dessen Umkreis, nicht dessen Ansicht. Von der Einfalt der Gestalt gieng man zur Untersuchung der Verhältnisse, welche Richtigkeit lehrete, und diese machete sicher, sich in das Große zu wagen, wodurch die Kunst zur Großheit, und endlich unter den Griechen stuffenweise zur höchsten Schönheit gelangete. Nachdem alle Theile derselben vereinigt waren, und ihre Ausschmückung gesuchet wurde, gerieth man in das Ueberflüßige, wodurch sich die Großheit der Kunst ver- lor, und endlich erfolgete der völlige Untergang derselben.
Dieses ist in wenig Worten die Absicht der Abhandlung dieser Ge- schichte der Kunst. In diesem Capitel wird zum ersten von der anfäng- lichen Gestalt der Kunst allgemein geredet, ferner von der verschiede- nen Materie, in welcher die Bildhauerey arbeitete, und drittens von dem Einflusse des Himmels in die Kunst.
II. Anfang der Kunst mit der Bildhauerey.
Die Kunst hat mit der einfältigsten Gestaltung, und vermuthlich mit einer Art von Bildhauerey angefangen: denn auch ein Kind kann einer weichen Masse eine gewisse Form geben, aber es kann nichts auf einer Fläche zeichnen; weil zu jenem der bloße Begriff einer Sache hinlänglich ist, zum Zeichnen aber viele andere Kenntnisse erfordert werden: aber die Malerey ist nachher die Ziererinn der Bildhauerey geworden.
III. Aehnlicher Ur- sprung dersel- ben bey ver- schiedenen Völkern.
Die Kunst scheint unter allen Völkern, welche dieselbe geübet haben, auf gleiche Art entsprungen zu seyn, und man hat nicht Grund genug, ein besonderes Vaterland derselben anzugeben: denn den ersten Saamen zum Nothwendigen hat ein jedes Volk bey sich gefunden. Aber die Erfindung der Kunst ist verschieden nach dem Alter der Völker, und in Absicht der früheren oder späteren Einführung des Götterdienstes, so daß sich die Chal- däer oder die Aegypter ihre eingebildeten höheren Kräfte, zur Verehrung, zei- tiger als die Griechen, werden sinnlich vorgestellet haben. Denn hier ver- hält es sich, wie mit andern Künsten und Erfindungen, dergleichen das
Purpur-
I Theil. Erſtes Capitel.
Die aͤlteſten Nachrichten lehren uns, daß die erſten Figuren vorgeſtellet, was ein Menſch iſt, nicht wie er uns erſcheint, deſſen Umkreis, nicht deſſen Anſicht. Von der Einfalt der Geſtalt gieng man zur Unterſuchung der Verhaͤltniſſe, welche Richtigkeit lehrete, und dieſe machete ſicher, ſich in das Große zu wagen, wodurch die Kunſt zur Großheit, und endlich unter den Griechen ſtuffenweiſe zur hoͤchſten Schoͤnheit gelangete. Nachdem alle Theile derſelben vereinigt waren, und ihre Ausſchmuͤckung geſuchet wurde, gerieth man in das Ueberfluͤßige, wodurch ſich die Großheit der Kunſt ver- lor, und endlich erfolgete der voͤllige Untergang derſelben.
Dieſes iſt in wenig Worten die Abſicht der Abhandlung dieſer Ge- ſchichte der Kunſt. In dieſem Capitel wird zum erſten von der anfaͤng- lichen Geſtalt der Kunſt allgemein geredet, ferner von der verſchiede- nen Materie, in welcher die Bildhauerey arbeitete, und drittens von dem Einfluſſe des Himmels in die Kunſt.
II. Anfang der Kunſt mit der Bildhauerey.
Die Kunſt hat mit der einfaͤltigſten Geſtaltung, und vermuthlich mit einer Art von Bildhauerey angefangen: denn auch ein Kind kann einer weichen Maſſe eine gewiſſe Form geben, aber es kann nichts auf einer Flaͤche zeichnen; weil zu jenem der bloße Begriff einer Sache hinlaͤnglich iſt, zum Zeichnen aber viele andere Kenntniſſe erfordert werden: aber die Malerey iſt nachher die Ziererinn der Bildhauerey geworden.
III. Aehnlicher Ur- ſprung derſel- ben bey ver- ſchiedenen Voͤlkern.
Die Kunſt ſcheint unter allen Voͤlkern, welche dieſelbe geuͤbet haben, auf gleiche Art entſprungen zu ſeyn, und man hat nicht Grund genug, ein beſonderes Vaterland derſelben anzugeben: denn den erſten Saamen zum Nothwendigen hat ein jedes Volk bey ſich gefunden. Aber die Erfindung der Kunſt iſt verſchieden nach dem Alter der Voͤlker, und in Abſicht der fruͤheren oder ſpaͤteren Einfuͤhrung des Goͤtterdienſtes, ſo daß ſich die Chal- daͤer oder die Aegypter ihre eingebildeten hoͤheren Kraͤfte, zur Verehrung, zei- tiger als die Griechen, werden ſinnlich vorgeſtellet haben. Denn hier ver- haͤlt es ſich, wie mit andern Kuͤnſten und Erfindungen, dergleichen das
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I Theil. Erſtes Capitel.
Die aͤlteſten Nachrichten lehren uns, daß die erſten Figuren vorgeſtellet,
was ein Menſch iſt, nicht wie er uns erſcheint, deſſen Umkreis, nicht deſſen
Anſicht. Von der Einfalt der Geſtalt gieng man zur Unterſuchung der
Verhaͤltniſſe, welche Richtigkeit lehrete, und dieſe machete ſicher, ſich in
das Große zu wagen, wodurch die Kunſt zur Großheit, und endlich unter
den Griechen ſtuffenweiſe zur hoͤchſten Schoͤnheit gelangete. Nachdem alle
Theile derſelben vereinigt waren, und ihre Ausſchmuͤckung geſuchet wurde,
gerieth man in das Ueberfluͤßige, wodurch ſich die Großheit der Kunſt ver-
lor, und endlich erfolgete der voͤllige Untergang derſelben.
Dieſes iſt in wenig Worten die Abſicht der Abhandlung dieſer Ge-
ſchichte der Kunſt. In dieſem Capitel wird zum erſten von der anfaͤng-
lichen Geſtalt der Kunſt allgemein geredet, ferner von der verſchiede-
nen Materie, in welcher die Bildhauerey arbeitete, und drittens von dem
Einfluſſe des Himmels in die Kunſt.
Die Kunſt hat mit der einfaͤltigſten Geſtaltung, und vermuthlich mit
einer Art von Bildhauerey angefangen: denn auch ein Kind kann einer
weichen Maſſe eine gewiſſe Form geben, aber es kann nichts auf einer
Flaͤche zeichnen; weil zu jenem der bloße Begriff einer Sache hinlaͤnglich
iſt, zum Zeichnen aber viele andere Kenntniſſe erfordert werden: aber die
Malerey iſt nachher die Ziererinn der Bildhauerey geworden.
Die Kunſt ſcheint unter allen Voͤlkern, welche dieſelbe geuͤbet haben,
auf gleiche Art entſprungen zu ſeyn, und man hat nicht Grund genug, ein
beſonderes Vaterland derſelben anzugeben: denn den erſten Saamen zum
Nothwendigen hat ein jedes Volk bey ſich gefunden. Aber die Erfindung
der Kunſt iſt verſchieden nach dem Alter der Voͤlker, und in Abſicht der
fruͤheren oder ſpaͤteren Einfuͤhrung des Goͤtterdienſtes, ſo daß ſich die Chal-
daͤer oder die Aegypter ihre eingebildeten hoͤheren Kraͤfte, zur Verehrung, zei-
tiger als die Griechen, werden ſinnlich vorgeſtellet haben. Denn hier ver-
haͤlt es ſich, wie mit andern Kuͤnſten und Erfindungen, dergleichen das
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Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte01_1764/54>, abgerufen am 16.02.2025.
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