Das Vorurtheil von einem den Römischen Künstlern eigenen undIII. Irrige Mey- nung von ei- nem besondern Stile in der Kunst. von dem Griechischen verschiedenen Stil, ist aus zwo Ursachen entstanden. Die eine ist die unrichtige Erklärung der vorgestelleten Bilder, da man in denen, welche aus der Griechischen Fabel genommen sind, Römische Ge-A. Aus falschen Erklärungen. schichte, und folglich einen Römischen Künstler finden wollen. Ein sol- cher Schluß ist derjenige, welchen ein seichter Scribent aus der erzwunge- nen Erklärung eines herrlichen Griechischen Steins in dem Stoßischen Mu- seo macht 1). Es stellet dieser Stein die Tochter des Priamus Polyxena vor 2), welche Pyrrhus auf dem Grabe seines Vaters Achilles aufopferte; jener aber findet gar keine Schwierigkeit, die Nothzüchtigung der Lucretia hier zu sehen. Ein Beweis seiner Erklärung soll der Römische Stil der Arbeit dieses Steins seyn, welcher, sagt er, sich deutlich hier zeiget, nach einer umgekehrten Art zu denken, wo aus einem irrigen Schlusse ein fal- scher Vordersatz gezogen wird. Es würde derselbe eben den Schluß ge- macht haben, aus dem schönen Gruppo des vermeynten jungen Papi- rius, wenn der Name des Griechischen Künstlers nicht da wäre. DieB. Aus übel ver- standener Ehr- furcht gegen die Griechi- schen Werke. zwote Ursache liegt in einer unzeitigen Ehrfurcht gegen die Werke Griechi- scher Künstler: denn da sich viele mittelmäßige Werke finden, entsieht man sich, dieselben jenen beyzulegen, und es scheinet billiger, den Römern, als den Griechen, einen Tadel anzuhängen. Man begreift daher alles, was schlecht scheinet, unter dem Namen Römischer Arbeiten, aber ohne das ge- ringste Kennzeichen davon anzugeben. Aus solchen ungegründeten undC. Widerlegung der irrigen Meynung. willkührlich angenommenen Meynungen glaube ich berechtigt zu seyn, den Begriff eines Römischen Stils in der Kunst, in so weit unsere itzigen Kennt- nisse gehen, für eine Einbildung zu halten. Ich will indessen, um nichts zu übergehen, zum ersten die Umstände anzeigen, worinn sich die Kunst zur Zeit der Römischen Republik befunden hat; und da ich hier von der vor-
gesetzten
1)Scarfo Lettera &c. p. 51.
2)Winckelm. Descr. des Pier. gr. du Dab. de Stosch, p. 395.
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Von der Kunſt unter den Roͤmern.
Das Vorurtheil von einem den Roͤmiſchen Kuͤnſtlern eigenen undIII. Irrige Mey- nung von ei- nem beſondern Stile in der Kunſt. von dem Griechiſchen verſchiedenen Stil, iſt aus zwo Urſachen entſtanden. Die eine iſt die unrichtige Erklaͤrung der vorgeſtelleten Bilder, da man in denen, welche aus der Griechiſchen Fabel genommen ſind, Roͤmiſche Ge-A. Aus falſchen Erklaͤrungen. ſchichte, und folglich einen Roͤmiſchen Kuͤnſtler finden wollen. Ein ſol- cher Schluß iſt derjenige, welchen ein ſeichter Scribent aus der erzwunge- nen Erklaͤrung eines herrlichen Griechiſchen Steins in dem Stoßiſchen Mu- ſeo macht 1). Es ſtellet dieſer Stein die Tochter des Priamus Polyxena vor 2), welche Pyrrhus auf dem Grabe ſeines Vaters Achilles aufopferte; jener aber findet gar keine Schwierigkeit, die Nothzuͤchtigung der Lucretia hier zu ſehen. Ein Beweis ſeiner Erklaͤrung ſoll der Roͤmiſche Stil der Arbeit dieſes Steins ſeyn, welcher, ſagt er, ſich deutlich hier zeiget, nach einer umgekehrten Art zu denken, wo aus einem irrigen Schluſſe ein fal- ſcher Vorderſatz gezogen wird. Es wuͤrde derſelbe eben den Schluß ge- macht haben, aus dem ſchoͤnen Gruppo des vermeynten jungen Papi- rius, wenn der Name des Griechiſchen Kuͤnſtlers nicht da waͤre. DieB. Aus uͤbel ver- ſtandener Ehr- furcht gegen die Griechi- ſchen Werke. zwote Urſache liegt in einer unzeitigen Ehrfurcht gegen die Werke Griechi- ſcher Kuͤnſtler: denn da ſich viele mittelmaͤßige Werke finden, entſieht man ſich, dieſelben jenen beyzulegen, und es ſcheinet billiger, den Roͤmern, als den Griechen, einen Tadel anzuhaͤngen. Man begreift daher alles, was ſchlecht ſcheinet, unter dem Namen Roͤmiſcher Arbeiten, aber ohne das ge- ringſte Kennzeichen davon anzugeben. Aus ſolchen ungegruͤndeten undC. Widerlegung der irrigen Meynung. willkuͤhrlich angenommenen Meynungen glaube ich berechtigt zu ſeyn, den Begriff eines Roͤmiſchen Stils in der Kunſt, in ſo weit unſere itzigen Kennt- niſſe gehen, fuͤr eine Einbildung zu halten. Ich will indeſſen, um nichts zu uͤbergehen, zum erſten die Umſtaͤnde anzeigen, worinn ſich die Kunſt zur Zeit der Roͤmiſchen Republik befunden hat; und da ich hier von der vor-
geſetzten
1)Scarfo Lettera &c. p. 51.
2)Winckelm. Deſcr. des Pier. gr. du Dab. de Stoſch, p. 395.
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Von der Kunſt unter den Roͤmern.
Das Vorurtheil von einem den Roͤmiſchen Kuͤnſtlern eigenen und
von dem Griechiſchen verſchiedenen Stil, iſt aus zwo Urſachen entſtanden.
Die eine iſt die unrichtige Erklaͤrung der vorgeſtelleten Bilder, da man in
denen, welche aus der Griechiſchen Fabel genommen ſind, Roͤmiſche Ge-
ſchichte, und folglich einen Roͤmiſchen Kuͤnſtler finden wollen. Ein ſol-
cher Schluß iſt derjenige, welchen ein ſeichter Scribent aus der erzwunge-
nen Erklaͤrung eines herrlichen Griechiſchen Steins in dem Stoßiſchen Mu-
ſeo macht 1). Es ſtellet dieſer Stein die Tochter des Priamus Polyxena
vor 2), welche Pyrrhus auf dem Grabe ſeines Vaters Achilles aufopferte;
jener aber findet gar keine Schwierigkeit, die Nothzuͤchtigung der Lucretia
hier zu ſehen. Ein Beweis ſeiner Erklaͤrung ſoll der Roͤmiſche Stil der
Arbeit dieſes Steins ſeyn, welcher, ſagt er, ſich deutlich hier zeiget, nach
einer umgekehrten Art zu denken, wo aus einem irrigen Schluſſe ein fal-
ſcher Vorderſatz gezogen wird. Es wuͤrde derſelbe eben den Schluß ge-
macht haben, aus dem ſchoͤnen Gruppo des vermeynten jungen Papi-
rius, wenn der Name des Griechiſchen Kuͤnſtlers nicht da waͤre. Die
zwote Urſache liegt in einer unzeitigen Ehrfurcht gegen die Werke Griechi-
ſcher Kuͤnſtler: denn da ſich viele mittelmaͤßige Werke finden, entſieht
man ſich, dieſelben jenen beyzulegen, und es ſcheinet billiger, den Roͤmern,
als den Griechen, einen Tadel anzuhaͤngen. Man begreift daher alles, was
ſchlecht ſcheinet, unter dem Namen Roͤmiſcher Arbeiten, aber ohne das ge-
ringſte Kennzeichen davon anzugeben. Aus ſolchen ungegruͤndeten und
willkuͤhrlich angenommenen Meynungen glaube ich berechtigt zu ſeyn, den
Begriff eines Roͤmiſchen Stils in der Kunſt, in ſo weit unſere itzigen Kennt-
niſſe gehen, fuͤr eine Einbildung zu halten. Ich will indeſſen, um nichts
zu uͤbergehen, zum erſten die Umſtaͤnde anzeigen, worinn ſich die Kunſt
zur Zeit der Roͤmiſchen Republik befunden hat; und da ich hier von der vor-
geſetzten
III.
Irrige Mey-
nung von ei-
nem beſondern
Stile in der
Kunſt.
A.
Aus falſchen
Erklaͤrungen.
B.
Aus uͤbel ver-
ſtandener Ehr-
furcht gegen
die Griechi-
ſchen Werke.
C.
Widerlegung
der irrigen
Meynung.
1) Scarfo Lettera &c. p. 51.
2) Winckelm. Deſcr. des Pier. gr. du Dab. de Stoſch, p. 395.
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Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764, S. 293. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte01_1764/343>, abgerufen am 16.07.2024.
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