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Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764.

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Von der Kunst unter den Griechen.
die Länge eines Auges an; wiederum ein Theil ist für die Höhe der Augen.
Eben das Maaß ist von der Spitze der Nase bis zu dem Schnitt des Mun-
des, und von diesem bis an den Einbug des Kinns, und von da bis an die
Spitze des Kinns: die Breite der Nase bis an die Lappen der Nüsten hält
eben ein solches Theil; die Länge des Mundes aber zwey Theile, und diese
ist also gleich der Länge der Augen, und der Höhe des Kinns bis zur Oeff-
nung des Mundes. Nimmt man die Hälfte des Gesichts bis zu den Haa-
ren, so findet sich die Länge von dem Kinne an bis zu der Halsgrube.
Dieser Weg zu zeichnen kann, glaube ich, ohne Figur, deutlich seyn, und
wer ihm folget, kann in der wahren und schönen Proportion des Gesichts
nicht fehlen.

Was endlich die Schönheit einzelner Theile des Menschlichen Kör-dd Von der
Schönheit
einzelner
Theile des
Körpers.

pers betrift, so ist hier die Natur der beste Lehrer: denn im Einzelnen ist
dieselbe über die Kunst, so wie diese im Ganzen sich über jene erheben kann.
Dieses gehet vornehmlich auf die Bildhauerey, welche unfähig ist, das
Leben zu erreichen in denjenigen Theilen, wo die Malerey im Stande ist,
demselben sehr nahe zu kommen. Da aber einige vollkommen gebildete
Theile, als ein sanftes Profil, in den größten Städten kaum einigemal
gefunden werden, so müssen wir auch aus dieser Ursache (von dem Nacken-
den nicht zu reden) einige Theile an den Bildnissen der Alten betrachten.
Die Beschreibung des Einzelnen aber ist in allen Dingen, also auch
hier schwer.

In der Bildung des Gesichts ist das sogenannte Griechische Profila Des Ge-
sichts; ins be-
sondere

die vornehmste Eigenschaft einer hohen Schönheit. Dieses Profil ist eine
fast gerade oder sanft gesenkte Linie, welche die Stirn mit der Nase anaa des Pro-
fils desselben.

jugendlichen, sonderlich Weiblichen Köpfen, beschreibet. Die Natur
bildet dasselbe weniger unter einem rauhen, als sanften Himmel, aber wo
es sich findet, kann die Form des Gesichts schön seyn: denn durch das Ge-

rade
Winckelm. Gesch. der Kunst. Z

Von der Kunſt unter den Griechen.
die Laͤnge eines Auges an; wiederum ein Theil iſt fuͤr die Hoͤhe der Augen.
Eben das Maaß iſt von der Spitze der Naſe bis zu dem Schnitt des Mun-
des, und von dieſem bis an den Einbug des Kinns, und von da bis an die
Spitze des Kinns: die Breite der Naſe bis an die Lappen der Nuͤſten haͤlt
eben ein ſolches Theil; die Laͤnge des Mundes aber zwey Theile, und dieſe
iſt alſo gleich der Laͤnge der Augen, und der Hoͤhe des Kinns bis zur Oeff-
nung des Mundes. Nimmt man die Haͤlfte des Geſichts bis zu den Haa-
ren, ſo findet ſich die Laͤnge von dem Kinne an bis zu der Halsgrube.
Dieſer Weg zu zeichnen kann, glaube ich, ohne Figur, deutlich ſeyn, und
wer ihm folget, kann in der wahren und ſchoͤnen Proportion des Geſichts
nicht fehlen.

Was endlich die Schoͤnheit einzelner Theile des Menſchlichen Koͤr-dd Von der
Schoͤnheit
einzelner
Theile des
Koͤrpers.

pers betrift, ſo iſt hier die Natur der beſte Lehrer: denn im Einzelnen iſt
dieſelbe uͤber die Kunſt, ſo wie dieſe im Ganzen ſich uͤber jene erheben kann.
Dieſes gehet vornehmlich auf die Bildhauerey, welche unfaͤhig iſt, das
Leben zu erreichen in denjenigen Theilen, wo die Malerey im Stande iſt,
demſelben ſehr nahe zu kommen. Da aber einige vollkommen gebildete
Theile, als ein ſanftes Profil, in den groͤßten Staͤdten kaum einigemal
gefunden werden, ſo muͤſſen wir auch aus dieſer Urſache (von dem Nacken-
den nicht zu reden) einige Theile an den Bildniſſen der Alten betrachten.
Die Beſchreibung des Einzelnen aber iſt in allen Dingen, alſo auch
hier ſchwer.

In der Bildung des Geſichts iſt das ſogenannte Griechiſche Profilα Des Ge-
ſichts; ins be-
ſondere

die vornehmſte Eigenſchaft einer hohen Schoͤnheit. Dieſes Profil iſt eine
faſt gerade oder ſanft geſenkte Linie, welche die Stirn mit der Naſe anαα des Pro-
fils deſſelben.

jugendlichen, ſonderlich Weiblichen Koͤpfen, beſchreibet. Die Natur
bildet daſſelbe weniger unter einem rauhen, als ſanften Himmel, aber wo
es ſich findet, kann die Form des Geſichts ſchoͤn ſeyn: denn durch das Ge-

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Winckelm. Geſch. der Kunſt. Z
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[177/0227] Von der Kunſt unter den Griechen. die Laͤnge eines Auges an; wiederum ein Theil iſt fuͤr die Hoͤhe der Augen. Eben das Maaß iſt von der Spitze der Naſe bis zu dem Schnitt des Mun- des, und von dieſem bis an den Einbug des Kinns, und von da bis an die Spitze des Kinns: die Breite der Naſe bis an die Lappen der Nuͤſten haͤlt eben ein ſolches Theil; die Laͤnge des Mundes aber zwey Theile, und dieſe iſt alſo gleich der Laͤnge der Augen, und der Hoͤhe des Kinns bis zur Oeff- nung des Mundes. Nimmt man die Haͤlfte des Geſichts bis zu den Haa- ren, ſo findet ſich die Laͤnge von dem Kinne an bis zu der Halsgrube. Dieſer Weg zu zeichnen kann, glaube ich, ohne Figur, deutlich ſeyn, und wer ihm folget, kann in der wahren und ſchoͤnen Proportion des Geſichts nicht fehlen. Was endlich die Schoͤnheit einzelner Theile des Menſchlichen Koͤr- pers betrift, ſo iſt hier die Natur der beſte Lehrer: denn im Einzelnen iſt dieſelbe uͤber die Kunſt, ſo wie dieſe im Ganzen ſich uͤber jene erheben kann. Dieſes gehet vornehmlich auf die Bildhauerey, welche unfaͤhig iſt, das Leben zu erreichen in denjenigen Theilen, wo die Malerey im Stande iſt, demſelben ſehr nahe zu kommen. Da aber einige vollkommen gebildete Theile, als ein ſanftes Profil, in den groͤßten Staͤdten kaum einigemal gefunden werden, ſo muͤſſen wir auch aus dieſer Urſache (von dem Nacken- den nicht zu reden) einige Theile an den Bildniſſen der Alten betrachten. Die Beſchreibung des Einzelnen aber iſt in allen Dingen, alſo auch hier ſchwer. dd Von der Schoͤnheit einzelner Theile des Koͤrpers. In der Bildung des Geſichts iſt das ſogenannte Griechiſche Profil die vornehmſte Eigenſchaft einer hohen Schoͤnheit. Dieſes Profil iſt eine faſt gerade oder ſanft geſenkte Linie, welche die Stirn mit der Naſe an jugendlichen, ſonderlich Weiblichen Koͤpfen, beſchreibet. Die Natur bildet daſſelbe weniger unter einem rauhen, als ſanften Himmel, aber wo es ſich findet, kann die Form des Geſichts ſchoͤn ſeyn: denn durch das Ge- rade α Des Ge- ſichts; ins be- ſondere αα des Pro- fils deſſelben. Winckelm. Geſch. der Kunſt. Z

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Zitationshilfe: Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764, S. 177. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte01_1764/227>, abgerufen am 27.11.2024.