sanften abwechselnden Schwebung. Im Apollo, dem Bilde der schönsten Gottheit, sind diese Muskeln gelinde, und wie ein geschmolzen Glas in kaum sichtbare Wellen geblasen, und werden mehr dem Gefühle, als dem Gesichte, offenbar.
Der Leser verzeihe mir, wenn ich wiederum jenem Dichter von der Malerey, sein falsches Vorurtheil zeigen muß. Es setzet derselbe unter vielen ungegründeten Eigenschaften der Natur der vor ihm sogenannten Halbgötter und Helden, in Werken der alten Kunst, von Fleische abge- fallene Glieder, dürre Beine, einen kleinen Kopf, kleine Hüften, einen kleinen Bauch, kleinliche Füße, und eine hohle Fußsohle 1). Woher in der Welt sind demselben diese Erscheinungen kommen! Hätte er doch schrei- ben mögen, was er besser verstanden!
d d Begriff der Schönheit in Weiblichen Gottheiten.
Unter den Weiblichen Gottheiten sind, wie an den Männlichen, ver- schiedene Alter, und auch verschiedene Begriffe der Schönheit, wenigstens in den Köpfen, zu bemerken, weil nur allein die Venus ganz unbekleidet ist: diese findet sich häufiger, als andere Göttinnen, vorgestellet, und in ver- schiedenem Alter. Die Mediceische Venus zu Florenz ist einer Rose gleich, die nach einer schönen Morgenröthe, beym Aufgang der Sonnen, aufbricht, und die aus dem Alter tritt, welches, wie Früchte vor der völligen Reife, hart und herblich ist, wie selbst ihr Busen meldet, welcher schon ausgebrei- teter ist, als an zarten Mädgens. Bey dem Stande derselben stelle ich mir diejenige Lais vor, die Apelles im Lieben unterrichtete, und ich bilde mir dieselbe so, wie sie sich das erstemal vor den Augen des Künstlers ent- kleiden müssen. Die Venus im Campidoglio 2), welche besser, als alle an- dere, erhalten ist, (denn es fehlen nur einige Finger, und es ist nichts an derselben gebrochen) eine andere in der Villa Albani, und die Venus von
Meno-
1)Watelet Refl. sur la peint. p. 69.
2)Mus. Capit. T. 3. tav. 19.
I Theil. Viertes Capitel.
ſanften abwechſelnden Schwebung. Im Apollo, dem Bilde der ſchoͤnſten Gottheit, ſind dieſe Muskeln gelinde, und wie ein geſchmolzen Glas in kaum ſichtbare Wellen geblaſen, und werden mehr dem Gefuͤhle, als dem Geſichte, offenbar.
Der Leſer verzeihe mir, wenn ich wiederum jenem Dichter von der Malerey, ſein falſches Vorurtheil zeigen muß. Es ſetzet derſelbe unter vielen ungegruͤndeten Eigenſchaften der Natur der vor ihm ſogenannten Halbgoͤtter und Helden, in Werken der alten Kunſt, von Fleiſche abge- fallene Glieder, duͤrre Beine, einen kleinen Kopf, kleine Huͤften, einen kleinen Bauch, kleinliche Fuͤße, und eine hohle Fußſohle 1). Woher in der Welt ſind demſelben dieſe Erſcheinungen kommen! Haͤtte er doch ſchrei- ben moͤgen, was er beſſer verſtanden!
δ δ Begriff der Schoͤnheit in Weiblichen Gottheiten.
Unter den Weiblichen Gottheiten ſind, wie an den Maͤnnlichen, ver- ſchiedene Alter, und auch verſchiedene Begriffe der Schoͤnheit, wenigſtens in den Koͤpfen, zu bemerken, weil nur allein die Venus ganz unbekleidet iſt: dieſe findet ſich haͤufiger, als andere Goͤttinnen, vorgeſtellet, und in ver- ſchiedenem Alter. Die Mediceiſche Venus zu Florenz iſt einer Roſe gleich, die nach einer ſchoͤnen Morgenroͤthe, beym Aufgang der Sonnen, aufbricht, und die aus dem Alter tritt, welches, wie Fruͤchte vor der voͤlligen Reife, hart und herblich iſt, wie ſelbſt ihr Buſen meldet, welcher ſchon ausgebrei- teter iſt, als an zarten Maͤdgens. Bey dem Stande derſelben ſtelle ich mir diejenige Lais vor, die Apelles im Lieben unterrichtete, und ich bilde mir dieſelbe ſo, wie ſie ſich das erſtemal vor den Augen des Kuͤnſtlers ent- kleiden muͤſſen. Die Venus im Campidoglio 2), welche beſſer, als alle an- dere, erhalten iſt, (denn es fehlen nur einige Finger, und es iſt nichts an derſelben gebrochen) eine andere in der Villa Albani, und die Venus von
Meno-
1)Watelet Refl. ſur la peint. p. 69.
2)Muſ. Capit. T. 3. tav. 19.
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I Theil. Viertes Capitel.
ſanften abwechſelnden Schwebung. Im Apollo, dem Bilde der ſchoͤnſten
Gottheit, ſind dieſe Muskeln gelinde, und wie ein geſchmolzen Glas in kaum
ſichtbare Wellen geblaſen, und werden mehr dem Gefuͤhle, als dem Geſichte,
offenbar.
Der Leſer verzeihe mir, wenn ich wiederum jenem Dichter von der
Malerey, ſein falſches Vorurtheil zeigen muß. Es ſetzet derſelbe unter
vielen ungegruͤndeten Eigenſchaften der Natur der vor ihm ſogenannten
Halbgoͤtter und Helden, in Werken der alten Kunſt, von Fleiſche abge-
fallene Glieder, duͤrre Beine, einen kleinen Kopf, kleine Huͤften, einen
kleinen Bauch, kleinliche Fuͤße, und eine hohle Fußſohle 1). Woher in der
Welt ſind demſelben dieſe Erſcheinungen kommen! Haͤtte er doch ſchrei-
ben moͤgen, was er beſſer verſtanden!
Unter den Weiblichen Gottheiten ſind, wie an den Maͤnnlichen, ver-
ſchiedene Alter, und auch verſchiedene Begriffe der Schoͤnheit, wenigſtens
in den Koͤpfen, zu bemerken, weil nur allein die Venus ganz unbekleidet
iſt: dieſe findet ſich haͤufiger, als andere Goͤttinnen, vorgeſtellet, und in ver-
ſchiedenem Alter. Die Mediceiſche Venus zu Florenz iſt einer Roſe gleich,
die nach einer ſchoͤnen Morgenroͤthe, beym Aufgang der Sonnen, aufbricht,
und die aus dem Alter tritt, welches, wie Fruͤchte vor der voͤlligen Reife,
hart und herblich iſt, wie ſelbſt ihr Buſen meldet, welcher ſchon ausgebrei-
teter iſt, als an zarten Maͤdgens. Bey dem Stande derſelben ſtelle ich
mir diejenige Lais vor, die Apelles im Lieben unterrichtete, und ich bilde
mir dieſelbe ſo, wie ſie ſich das erſtemal vor den Augen des Kuͤnſtlers ent-
kleiden muͤſſen. Die Venus im Campidoglio 2), welche beſſer, als alle an-
dere, erhalten iſt, (denn es fehlen nur einige Finger, und es iſt nichts an
derſelben gebrochen) eine andere in der Villa Albani, und die Venus von
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1) Watelet Refl. ſur la peint. p. 69.
2) Muſ. Capit. T. 3. tav. 19.
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Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764, S. 164. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte01_1764/214>, abgerufen am 16.07.2024.
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