Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764.I Theil. Viertes Capitel. führet, sondern man giebt ihnen die Vorschrift ohne weiteren Unterrichtnachzumachen, und die Hand bildet sich im schreiben, ehe der Knabe auf die Gründe von der Schönheit der Buchstaben achten würde. Eben so ler- nen die mehresten jungen Leute zeichnen, und so wie die Züge im schrei- ben in vernünftigen Jahren bleiben, wie sie sich in der Jugend gefor- met haben, so malen sich insgemein die Begriffe der Zeichner von der Schönheit in ihrem Verstande, wie das Auge gewöhnet worden, dieselbe zu betrachten und nachzuahmen, welche unrichtig werden, da die mehre- sten nach unvollkommenen Mustern zeichnen. In andern hat der Himmel das sanfte Gefühl der reinen Schönheit ler
I Theil. Viertes Capitel. fuͤhret, ſondern man giebt ihnen die Vorſchrift ohne weiteren Unterrichtnachzumachen, und die Hand bildet ſich im ſchreiben, ehe der Knabe auf die Gruͤnde von der Schoͤnheit der Buchſtaben achten wuͤrde. Eben ſo ler- nen die mehreſten jungen Leute zeichnen, und ſo wie die Zuͤge im ſchrei- ben in vernuͤnftigen Jahren bleiben, wie ſie ſich in der Jugend gefor- met haben, ſo malen ſich insgemein die Begriffe der Zeichner von der Schoͤnheit in ihrem Verſtande, wie das Auge gewoͤhnet worden, dieſelbe zu betrachten und nachzuahmen, welche unrichtig werden, da die mehre- ſten nach unvollkommenen Muſtern zeichnen. In andern hat der Himmel das ſanfte Gefuͤhl der reinen Schoͤnheit ler
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I Theil. Viertes Capitel.
fuͤhret, ſondern man giebt ihnen die Vorſchrift ohne weiteren Unterricht
nachzumachen, und die Hand bildet ſich im ſchreiben, ehe der Knabe auf
die Gruͤnde von der Schoͤnheit der Buchſtaben achten wuͤrde. Eben ſo ler-
nen die mehreſten jungen Leute zeichnen, und ſo wie die Zuͤge im ſchrei-
ben in vernuͤnftigen Jahren bleiben, wie ſie ſich in der Jugend gefor-
met haben, ſo malen ſich insgemein die Begriffe der Zeichner von der
Schoͤnheit in ihrem Verſtande, wie das Auge gewoͤhnet worden, dieſelbe
zu betrachten und nachzuahmen, welche unrichtig werden, da die mehre-
ſten nach unvollkommenen Muſtern zeichnen.
In andern hat der Himmel das ſanfte Gefuͤhl der reinen Schoͤnheit
nicht zur Reife kommen laſſen, und es iſt ihnen entweder durch die Kunſt,
das iſt, durch die Bemuͤhung, ihr Wiſſen allenthalben anzuwenden, in
Bildung jugendlicher Schoͤnheiten erhaͤrtet worden, wie im Michael An-
gelo, oder es hat ſich dieſes Gefuͤhl durch eine poͤbelhafte Schmeicheley des
groben Sinnes, um demſelben alles greiflicher vor Augen zu legen, mit
der Zeit gaͤnzlich verderbet, wie im Bernini geſchehen iſt. Jener hat ſich
mit Betrachtung der hohen Schoͤnheit beſchaͤftiget, wie man aus ſeinen,
theils gedruckten, theils ungedruckten Gedichten ſieht, wo er in wuͤrdi-
gen und erhabenen Ausdruͤcken uͤber dieſelbe denket, und er iſt wunderbar
in ſtarken Leibern; aber aus angefuͤhrtem Grunde hat derſelbe aus ſeinen
Weiblichen Figuren Geſchoͤpfe einer andern Welt, im Gebaͤude, in der
Handlung und in den Gebehrden gemacht: Michael Angelo iſt gegen den Ra-
phael, was Thucydides gegen den Xenophon iſt. Bernini ergrif eben den
Weg, welcher jenen wie in unwegſame Orte und zu ſteilen Klippen brachte,
und dieſen hingegen in Suͤmpfe und Lachen verfuͤhrete: denn er ſuchte For-
men, aus der niedrigſten Natur genommen, gleichſam durch das Uebertriebene
zu veredlen, und ſeine Figuren ſind wie der zu ploͤtzlichem Gluͤcke gelangete
Poͤbel; ſein Ausdruck iſt oft der Handlung widerſprechend, ſo wie Han-
nibal im aͤußerſten Kummer lachete. Dem ohngeachtet hat dieſer Kuͤnſt-
ler
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