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Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764.

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Von der Kunst unter den Hetruriern.
züglichen Bildung der Natur selbst, durch ein gesittetes Wesen, eine grö-
ßere Erhobenheit geben wird. Dieser zweyte Stil ist auch, wie man itzo
redet, manierirt zu nennen, welches nichts anders ist, als ein beständi-
ger Character in allerley Figuren: denn Apollo, Mars, Hercules und
Vulcanus sind auf ihren Werken in der Zeichnung nicht verschieden. Da
nun einerley Character kein Character ist, so könnte man auf Hetrurische
Künstler das, was Aristoteles 1) an Zeuxis tadelt, deuten, nemlich,
daß sie keinen Character gehabt haben; und dieses erkläret zugleich das
bisher nicht verstandene Urtheil des Weltweisen von den Künstlern.

Die angegebenen Eigenschaften dieses Stils sind noch itzo in gewis-D.
Erläuterung
desselben.

ser Maaße dieser Nation überhaupt eigen, welche auf Kleinigkeiten gehet;
und dieses zeiget sich in ihrer Schreibart, welche sehr gesucht und gekün-
stelt ist, und trocken und dürre erscheinet gegen die reine Klarheit der Rö-
mischen; sonderlich aber offenbaret es sich in der Kunst./ Der Stil ihrer
alten Künstler blicket noch itzo hervor in den Werken ihrer Nachkommen,
und entdecket sich unpartheyischen Augen der Kenner in der Zeichnung des
Michael Angelo, des größten unter ihnen: daher saget jemand nicht
ohne Grund 2), daß wer eine Figur dieses Künstlers gesehen habe, habe
sie alle gesehen./ Es ist auch dieser Character unwidersprechlich eine von
den Unvollkommenheiten eines Daniel von Volterra, Pietro von Cor-
tona
, und anderer./ Die besten Römischen Künstler hingegen, Raphael
und dessen Schule, welche mit jenen aus einer Quelle geschöpft haben,
kommen in der Leichtigkeit ihrer Figuren den Griechen allezeit näher./

Das, was ich über diesen Stil gesagt habe, kann deutlicher zum
Beweis in ihren Werken gezeiget werden, an einem bärtigen Mercurius

auf
1) Poet. c. 6. p. 249.
2) Dolce Dial. della Pittur. p. 48. a.

Von der Kunſt unter den Hetruriern.
zuͤglichen Bildung der Natur ſelbſt, durch ein geſittetes Weſen, eine groͤ-
ßere Erhobenheit geben wird. Dieſer zweyte Stil iſt auch, wie man itzo
redet, manierirt zu nennen, welches nichts anders iſt, als ein beſtaͤndi-
ger Character in allerley Figuren: denn Apollo, Mars, Hercules und
Vulcanus ſind auf ihren Werken in der Zeichnung nicht verſchieden. Da
nun einerley Character kein Character iſt, ſo koͤnnte man auf Hetruriſche
Kuͤnſtler das, was Ariſtoteles 1) an Zeuxis tadelt, deuten, nemlich,
daß ſie keinen Character gehabt haben; und dieſes erklaͤret zugleich das
bisher nicht verſtandene Urtheil des Weltweiſen von den Kuͤnſtlern.

Die angegebenen Eigenſchaften dieſes Stils ſind noch itzo in gewiſ-D.
Erlaͤuterung
deſſelben.

ſer Maaße dieſer Nation uͤberhaupt eigen, welche auf Kleinigkeiten gehet;
und dieſes zeiget ſich in ihrer Schreibart, welche ſehr geſucht und gekuͤn-
ſtelt iſt, und trocken und duͤrre erſcheinet gegen die reine Klarheit der Roͤ-
miſchen; ſonderlich aber offenbaret es ſich in der Kunſt./ Der Stil ihrer
alten Kuͤnſtler blicket noch itzo hervor in den Werken ihrer Nachkommen,
und entdecket ſich unpartheyiſchen Augen der Kenner in der Zeichnung des
Michael Angelo, des groͤßten unter ihnen: daher ſaget jemand nicht
ohne Grund 2), daß wer eine Figur dieſes Kuͤnſtlers geſehen habe, habe
ſie alle geſehen./ Es iſt auch dieſer Character unwiderſprechlich eine von
den Unvollkommenheiten eines Daniel von Volterra, Pietro von Cor-
tona
, und anderer./ Die beſten Roͤmiſchen Kuͤnſtler hingegen, Raphael
und deſſen Schule, welche mit jenen aus einer Quelle geſchoͤpft haben,
kommen in der Leichtigkeit ihrer Figuren den Griechen allezeit naͤher./

Das, was ich uͤber dieſen Stil geſagt habe, kann deutlicher zum
Beweis in ihren Werken gezeiget werden, an einem baͤrtigen Mercurius

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1) Poet. c. 6. p. 249.
2) Dolce Dial. della Pittur. p. 48. a.
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[111/0161] Von der Kunſt unter den Hetruriern. zuͤglichen Bildung der Natur ſelbſt, durch ein geſittetes Weſen, eine groͤ- ßere Erhobenheit geben wird. Dieſer zweyte Stil iſt auch, wie man itzo redet, manierirt zu nennen, welches nichts anders iſt, als ein beſtaͤndi- ger Character in allerley Figuren: denn Apollo, Mars, Hercules und Vulcanus ſind auf ihren Werken in der Zeichnung nicht verſchieden. Da nun einerley Character kein Character iſt, ſo koͤnnte man auf Hetruriſche Kuͤnſtler das, was Ariſtoteles 1) an Zeuxis tadelt, deuten, nemlich, daß ſie keinen Character gehabt haben; und dieſes erklaͤret zugleich das bisher nicht verſtandene Urtheil des Weltweiſen von den Kuͤnſtlern. Die angegebenen Eigenſchaften dieſes Stils ſind noch itzo in gewiſ- ſer Maaße dieſer Nation uͤberhaupt eigen, welche auf Kleinigkeiten gehet; und dieſes zeiget ſich in ihrer Schreibart, welche ſehr geſucht und gekuͤn- ſtelt iſt, und trocken und duͤrre erſcheinet gegen die reine Klarheit der Roͤ- miſchen; ſonderlich aber offenbaret es ſich in der Kunſt./ Der Stil ihrer alten Kuͤnſtler blicket noch itzo hervor in den Werken ihrer Nachkommen, und entdecket ſich unpartheyiſchen Augen der Kenner in der Zeichnung des Michael Angelo, des groͤßten unter ihnen: daher ſaget jemand nicht ohne Grund 2), daß wer eine Figur dieſes Kuͤnſtlers geſehen habe, habe ſie alle geſehen./ Es iſt auch dieſer Character unwiderſprechlich eine von den Unvollkommenheiten eines Daniel von Volterra, Pietro von Cor- tona, und anderer./ Die beſten Roͤmiſchen Kuͤnſtler hingegen, Raphael und deſſen Schule, welche mit jenen aus einer Quelle geſchoͤpft haben, kommen in der Leichtigkeit ihrer Figuren den Griechen allezeit naͤher./ D. Erlaͤuterung deſſelben. Das, was ich uͤber dieſen Stil geſagt habe, kann deutlicher zum Beweis in ihren Werken gezeiget werden, an einem baͤrtigen Mercurius auf 1) Poet. c. 6. p. 249. 2) Dolce Dial. della Pittur. p. 48. a.

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Zitationshilfe: Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764, S. 111. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte01_1764/161>, abgerufen am 24.11.2024.