Wild, Hermine [d. i. Adele Wesemael]: Eure Wege sind nicht meine Wege. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 22. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–210. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Worte hallten ewig durch seine Seele nach. War es nicht, als stünde sie selbst neben ihm, den kummervollen Blick auf ihn geheftet, wie damals, als sie so sorgenvoll gewünscht: Ich möchte, er hätte die rechte Kraft! Marie saß an ihrem gewöhnlichen Platz, mit ihrer Arbeit beschäftigt. Ihre Blässe ausgenommen, war es, als sei gar nichts geschehen. Die Baronin sah von Zeit zu Zeit mit einem bekümmerten Blicke zu ihr hin, doch auch sie sagte nichts, sie dachte, manche Dinge kämpften sich am besten unausgesprochen durch. Jetzt läutete die Hausglocke, und Marie stand auf, um hinauszugehen. Sie wollte bei der ersten Begegnung zwischen ihrem Vater und ihrer Mutter nicht zugegen sein, aber dem starken Mädchen versagte auf einmal die Kraft. Sie konnte die Stelle, wo sie stand, nicht verlassen, ihre Füße schienen mit dem Boden fest verwachsen zu sein, und alle Anstrengungen reichten kaum hin, den Krampf zu bezwingen, der ihr nach dem Halse stieg. Der Angstschweiß stand auf ihrer Stirn, aber sie schämte sich ihrer Bewegung. Wie ein muthiges Pferd, das den Stachel fühlt, warf sie den schönen, für den Augenblick so stolzen Kopf in die Höhe, und mit fast übermenschlicher Anstrengung riß sie sich los. Sie schien gewachsen zu sein, so aufrecht hielt sie sich, und ging mit festen, ruhigen Schritten hinaus. Die Baronin sah ihr seufzend nach. Kurz darauf trat ihr Mann zu ihr ein. Auch er sah blaß aus, es war ganz anders, als seine gestrige Aufregung. Nun? sagte die Baronin, als er still eingetreten, sich schweigend mit der Hand auf ihren Stuhl stützte und wie gedankenlos vor sich in die Weite sah. Nun? wiederholte sie und legte sanft ihre Hand auf die seinige, um seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Es ist so, wie ich dachte, erwiderte er dumpf und Worte hallten ewig durch seine Seele nach. War es nicht, als stünde sie selbst neben ihm, den kummervollen Blick auf ihn geheftet, wie damals, als sie so sorgenvoll gewünscht: Ich möchte, er hätte die rechte Kraft! Marie saß an ihrem gewöhnlichen Platz, mit ihrer Arbeit beschäftigt. Ihre Blässe ausgenommen, war es, als sei gar nichts geschehen. Die Baronin sah von Zeit zu Zeit mit einem bekümmerten Blicke zu ihr hin, doch auch sie sagte nichts, sie dachte, manche Dinge kämpften sich am besten unausgesprochen durch. Jetzt läutete die Hausglocke, und Marie stand auf, um hinauszugehen. Sie wollte bei der ersten Begegnung zwischen ihrem Vater und ihrer Mutter nicht zugegen sein, aber dem starken Mädchen versagte auf einmal die Kraft. Sie konnte die Stelle, wo sie stand, nicht verlassen, ihre Füße schienen mit dem Boden fest verwachsen zu sein, und alle Anstrengungen reichten kaum hin, den Krampf zu bezwingen, der ihr nach dem Halse stieg. Der Angstschweiß stand auf ihrer Stirn, aber sie schämte sich ihrer Bewegung. Wie ein muthiges Pferd, das den Stachel fühlt, warf sie den schönen, für den Augenblick so stolzen Kopf in die Höhe, und mit fast übermenschlicher Anstrengung riß sie sich los. Sie schien gewachsen zu sein, so aufrecht hielt sie sich, und ging mit festen, ruhigen Schritten hinaus. Die Baronin sah ihr seufzend nach. Kurz darauf trat ihr Mann zu ihr ein. Auch er sah blaß aus, es war ganz anders, als seine gestrige Aufregung. Nun? sagte die Baronin, als er still eingetreten, sich schweigend mit der Hand auf ihren Stuhl stützte und wie gedankenlos vor sich in die Weite sah. Nun? wiederholte sie und legte sanft ihre Hand auf die seinige, um seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Es ist so, wie ich dachte, erwiderte er dumpf und <TEI> <text> <body> <div n="3"> <p><pb facs="#f0099"/> Worte hallten ewig durch seine Seele nach. War es nicht, als stünde sie selbst neben ihm, den kummervollen Blick auf ihn geheftet, wie damals, als sie so sorgenvoll gewünscht: Ich möchte, er hätte die rechte Kraft!</p><lb/> <p>Marie saß an ihrem gewöhnlichen Platz, mit ihrer Arbeit beschäftigt. Ihre Blässe ausgenommen, war es, als sei gar nichts geschehen. Die Baronin sah von Zeit zu Zeit mit einem bekümmerten Blicke zu ihr hin, doch auch sie sagte nichts, sie dachte, manche Dinge kämpften sich am besten unausgesprochen durch. Jetzt läutete die Hausglocke, und Marie stand auf, um hinauszugehen. Sie wollte bei der ersten Begegnung zwischen ihrem Vater und ihrer Mutter nicht zugegen sein, aber dem starken Mädchen versagte auf einmal die Kraft. Sie konnte die Stelle, wo sie stand, nicht verlassen, ihre Füße schienen mit dem Boden fest verwachsen zu sein, und alle Anstrengungen reichten kaum hin, den Krampf zu bezwingen, der ihr nach dem Halse stieg. Der Angstschweiß stand auf ihrer Stirn, aber sie schämte sich ihrer Bewegung. Wie ein muthiges Pferd, das den Stachel fühlt, warf sie den schönen, für den Augenblick so stolzen Kopf in die Höhe, und mit fast übermenschlicher Anstrengung riß sie sich los. Sie schien gewachsen zu sein, so aufrecht hielt sie sich, und ging mit festen, ruhigen Schritten hinaus. Die Baronin sah ihr seufzend nach. Kurz darauf trat ihr Mann zu ihr ein.</p><lb/> <p>Auch er sah blaß aus, es war ganz anders, als seine gestrige Aufregung. 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Worte hallten ewig durch seine Seele nach. War es nicht, als stünde sie selbst neben ihm, den kummervollen Blick auf ihn geheftet, wie damals, als sie so sorgenvoll gewünscht: Ich möchte, er hätte die rechte Kraft!
Marie saß an ihrem gewöhnlichen Platz, mit ihrer Arbeit beschäftigt. Ihre Blässe ausgenommen, war es, als sei gar nichts geschehen. Die Baronin sah von Zeit zu Zeit mit einem bekümmerten Blicke zu ihr hin, doch auch sie sagte nichts, sie dachte, manche Dinge kämpften sich am besten unausgesprochen durch. Jetzt läutete die Hausglocke, und Marie stand auf, um hinauszugehen. Sie wollte bei der ersten Begegnung zwischen ihrem Vater und ihrer Mutter nicht zugegen sein, aber dem starken Mädchen versagte auf einmal die Kraft. Sie konnte die Stelle, wo sie stand, nicht verlassen, ihre Füße schienen mit dem Boden fest verwachsen zu sein, und alle Anstrengungen reichten kaum hin, den Krampf zu bezwingen, der ihr nach dem Halse stieg. Der Angstschweiß stand auf ihrer Stirn, aber sie schämte sich ihrer Bewegung. Wie ein muthiges Pferd, das den Stachel fühlt, warf sie den schönen, für den Augenblick so stolzen Kopf in die Höhe, und mit fast übermenschlicher Anstrengung riß sie sich los. Sie schien gewachsen zu sein, so aufrecht hielt sie sich, und ging mit festen, ruhigen Schritten hinaus. Die Baronin sah ihr seufzend nach. Kurz darauf trat ihr Mann zu ihr ein.
Auch er sah blaß aus, es war ganz anders, als seine gestrige Aufregung. Nun? sagte die Baronin, als er still eingetreten, sich schweigend mit der Hand auf ihren Stuhl stützte und wie gedankenlos vor sich in die Weite sah.
Nun? wiederholte sie und legte sanft ihre Hand auf die seinige, um seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
Es ist so, wie ich dachte, erwiderte er dumpf und
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Zitationshilfe: | Wild, Hermine [d. i. Adele Wesemael]: Eure Wege sind nicht meine Wege. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 22. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–210. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wild_wege_1910/99>, abgerufen am 16.07.2024. |