Wild, Hermine [d. i. Adele Wesemael]: Eure Wege sind nicht meine Wege. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 22. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–210. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Unterdessen hatte sich die alte Bäuerin allmählich von ihrem Staunen erholt; der strenge Befehl des Grafen fiel ihr ein und zugleich die Angst für ihren Sohn. -- Ach, Fräulein Leonie, wo kommen Sie her? jammerte sie und faßte des Fräuleins Arm mit ihren zitternden Händen, sie wo möglich von der Kranken wegzuziehen. Herr Gott! was wird der Herr Graf sagen! Ach, gnädiges Fräulein, haben Sie Mitleid mit mir und meinem Sohne, der nicht zu Hause ist! -- Aber mit einer ungeduldigen Gebärde machte Leonie sich von ihr los, und rathlos sank die alte Frau auf ihren Stuhl zurück. Mit freudestrahlendem Auge betrachtete indessen die Kranke das junge Mädchen, das neben ihr auf die Knie gesunken war. Ja, du bist mein Kind, meine Tochter! meine einzige Tochter! mein Eigen, mein süßes Eigenthum! und leidenschaftlich küsste sie des Mädchens Stirn, Haare und Hände, die sie fest an ihren Busen geschlossen hielt. O meine Mutter, warum das Alles? rief Leonie; aber der Ausruf verhallte ungehört, der Kranken ganzes Leben schien nur noch in ihren Augen zu liegen. Laß dich anschauen! sagte sie leise, aber mit aller tiefen Glut ungesättigter Leidenschaft, laß dich anschauen! Laß mich sehen, wie schön du bist! O du bist schön! Du mußtest es ja sein. -- Er war es auch. -- O nur einen Zug des Lebens laß mich aus deinen Augen trinken, an deinen Lippen hängt ja der volle Becher! Einen Tropfen nur von dem Überfluss, der deiner Jugend entflieht! O du bist glücklich! Sei es -- aber vergiss deine Mutter nicht! Die furchtbare Aufregung fing an, sich zu legen, sie schloss die Augen und lehnte den matten Kopf an die Polster zurück. Leonie drückte zitternd das Gesicht in die Kleider der Sterbenden. Düstere Gedanken schienen bei dieser die Auswallung der ersten Freude nach und nach zu verdrängen; die Unterdessen hatte sich die alte Bäuerin allmählich von ihrem Staunen erholt; der strenge Befehl des Grafen fiel ihr ein und zugleich die Angst für ihren Sohn. — Ach, Fräulein Leonie, wo kommen Sie her? jammerte sie und faßte des Fräuleins Arm mit ihren zitternden Händen, sie wo möglich von der Kranken wegzuziehen. Herr Gott! was wird der Herr Graf sagen! Ach, gnädiges Fräulein, haben Sie Mitleid mit mir und meinem Sohne, der nicht zu Hause ist! — Aber mit einer ungeduldigen Gebärde machte Leonie sich von ihr los, und rathlos sank die alte Frau auf ihren Stuhl zurück. Mit freudestrahlendem Auge betrachtete indessen die Kranke das junge Mädchen, das neben ihr auf die Knie gesunken war. Ja, du bist mein Kind, meine Tochter! meine einzige Tochter! mein Eigen, mein süßes Eigenthum! und leidenschaftlich küsste sie des Mädchens Stirn, Haare und Hände, die sie fest an ihren Busen geschlossen hielt. O meine Mutter, warum das Alles? rief Leonie; aber der Ausruf verhallte ungehört, der Kranken ganzes Leben schien nur noch in ihren Augen zu liegen. Laß dich anschauen! sagte sie leise, aber mit aller tiefen Glut ungesättigter Leidenschaft, laß dich anschauen! Laß mich sehen, wie schön du bist! O du bist schön! Du mußtest es ja sein. — Er war es auch. — O nur einen Zug des Lebens laß mich aus deinen Augen trinken, an deinen Lippen hängt ja der volle Becher! Einen Tropfen nur von dem Überfluss, der deiner Jugend entflieht! O du bist glücklich! Sei es — aber vergiss deine Mutter nicht! Die furchtbare Aufregung fing an, sich zu legen, sie schloss die Augen und lehnte den matten Kopf an die Polster zurück. Leonie drückte zitternd das Gesicht in die Kleider der Sterbenden. 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Mit freudestrahlendem Auge betrachtete indessen die Kranke das junge Mädchen, das neben ihr auf die Knie gesunken war. Ja, du bist mein Kind, meine Tochter! meine einzige Tochter! mein Eigen, mein süßes Eigenthum! und leidenschaftlich küsste sie des Mädchens Stirn, Haare und Hände, die sie fest an ihren Busen geschlossen hielt.
O meine Mutter, warum das Alles? rief Leonie; aber der Ausruf verhallte ungehört, der Kranken ganzes Leben schien nur noch in ihren Augen zu liegen.
Laß dich anschauen! sagte sie leise, aber mit aller tiefen Glut ungesättigter Leidenschaft, laß dich anschauen! Laß mich sehen, wie schön du bist! O du bist schön! Du mußtest es ja sein. — Er war es auch. — O nur einen Zug des Lebens laß mich aus deinen Augen trinken, an deinen Lippen hängt ja der volle Becher! Einen Tropfen nur von dem Überfluss, der deiner Jugend entflieht! O du bist glücklich! Sei es — aber vergiss deine Mutter nicht!
Die furchtbare Aufregung fing an, sich zu legen, sie schloss die Augen und lehnte den matten Kopf an die Polster zurück. Leonie drückte zitternd das Gesicht in die Kleider der Sterbenden.
Düstere Gedanken schienen bei dieser die Auswallung der ersten Freude nach und nach zu verdrängen; die
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