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Wild, Hermine [d. i. Adele Wesemael]: Eure Wege sind nicht meine Wege. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 22. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–210. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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ihrer kleinen, schon so reifen Politik geworden war, schien der ganze Vorgang von ihr vergessen zu sein. Schien, sagen wir; denn wie ein schlummernder Keim lag er in ihrer Seele und wartete des Anstoßes, der ihn zu neuem Leben wecken sollte, und dieser blieb nicht aus.

Sechs Jahre waren auf diese Weise verflossen, Leonie hatte das fünfzehnte Jahr erreicht, und die erste Morgenröthe der Jungfräulichkeit übergoß ihre Stirne mit einem erhöhten Zauber.

Sie saß am Klaviere, über dessen Tasten unter Fräulein Bertold's Leitung ihre seinen Finger in glänzenden Trillern flogen. Von dem früheren Wildfang war nichts mehr an ihr zu sehen. Ihre Kleidung war gewählt, ihre Haltung elegant und fein, und das goldige Haar schmiegte sich in glänzender Fülle um das junge, geistvolle Haupt.

Um dieselbe Stunde des Nachmittags ging es lebhafter als sonst in dem kleinen Hofe am Walde her. Die fremde Frau lag im Sterben. Seit sechs Jahren hatte die Krankheit in ihrer Brust rastlose, wenn auch langsame Fortschritte gemacht, und eigentlich war es ein Wunder, das sie noch nicht gestorben war. Aber mit eiserner Willensfestigkeit klammerte sie sich an das fliehende Leben; es war, als erwarte sie etwas, als könne sie nicht sterben, bevor es in Erfüllung gegangen, und Tag für Tag, unausgesetzt, von ihrem Lehnstuhle am Fenster, übersahen die fieberhaften Augen die Wege und Pfade, die nach dem Hause führten.

Allein was sie erwartete, das zeigte sich nicht. Leonie war in guter Aufsicht, und wenn sie auch den kleinen Vorfall aus ihrer Kindheit keineswegs vergessen hatte, so war sie doch viel zu sehr auf ihr eigenes Wohl bedacht, viel zu sehr von andern Wünschen und Plänen erfüllt, um dem ausgesprochenen Befehle ihres Vaters, ohne besonderen Anstoß, zu trotzen.

Auch heute stand der Lehnstuhl der Kranken neben

ihrer kleinen, schon so reifen Politik geworden war, schien der ganze Vorgang von ihr vergessen zu sein. Schien, sagen wir; denn wie ein schlummernder Keim lag er in ihrer Seele und wartete des Anstoßes, der ihn zu neuem Leben wecken sollte, und dieser blieb nicht aus.

Sechs Jahre waren auf diese Weise verflossen, Leonie hatte das fünfzehnte Jahr erreicht, und die erste Morgenröthe der Jungfräulichkeit übergoß ihre Stirne mit einem erhöhten Zauber.

Sie saß am Klaviere, über dessen Tasten unter Fräulein Bertold's Leitung ihre seinen Finger in glänzenden Trillern flogen. Von dem früheren Wildfang war nichts mehr an ihr zu sehen. Ihre Kleidung war gewählt, ihre Haltung elegant und fein, und das goldige Haar schmiegte sich in glänzender Fülle um das junge, geistvolle Haupt.

Um dieselbe Stunde des Nachmittags ging es lebhafter als sonst in dem kleinen Hofe am Walde her. Die fremde Frau lag im Sterben. Seit sechs Jahren hatte die Krankheit in ihrer Brust rastlose, wenn auch langsame Fortschritte gemacht, und eigentlich war es ein Wunder, das sie noch nicht gestorben war. Aber mit eiserner Willensfestigkeit klammerte sie sich an das fliehende Leben; es war, als erwarte sie etwas, als könne sie nicht sterben, bevor es in Erfüllung gegangen, und Tag für Tag, unausgesetzt, von ihrem Lehnstuhle am Fenster, übersahen die fieberhaften Augen die Wege und Pfade, die nach dem Hause führten.

Allein was sie erwartete, das zeigte sich nicht. Leonie war in guter Aufsicht, und wenn sie auch den kleinen Vorfall aus ihrer Kindheit keineswegs vergessen hatte, so war sie doch viel zu sehr auf ihr eigenes Wohl bedacht, viel zu sehr von andern Wünschen und Plänen erfüllt, um dem ausgesprochenen Befehle ihres Vaters, ohne besonderen Anstoß, zu trotzen.

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Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-16T13:30:48Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
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Zitationshilfe: Wild, Hermine [d. i. Adele Wesemael]: Eure Wege sind nicht meine Wege. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 22. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–210. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wild_wege_1910/30>, abgerufen am 23.11.2024.