Wilbrandt, Adolph: Johann Ohlerich. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 7. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 267–332. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Ihr Blick flog umher, sie rang heftig nach Luft. Herr mein Gott! wiederholte sie dann und trat zurück. Julius! Lassen Sie mich gehn! Nein! flüsterte er, sprang in die Höhe und streckte die Hände nach ihr aus, um sie zu halten. Doch sie war zu schnell. Das Kopftuch war ihr bei seiner Umarmung in den Nacken geglitten; in der Auflegung riß sie es sich vom Halse, schlug damit nach seiner Hand und lief davon. Er wollte sie noch bei ihrem Namen rufen, aber Stimmen und Schritte, die sich näherten, brachten ihn zur Besinnung. Mit halb geöffneten Lippen blieb er stehen. Liesbeth, wie wenn er sie verfolgte, lief durch die Nacht weiter bis an ihr Haus, riß die Thür auf und warf sie hinter sich zu. Dann hörte er, wie der Schlüssel sich im Schlosse drehte. Er sah ihr nach wie einem Nachtgespenst, das vor seinen Augen zerflattert war, und glaubte sie doch noch in seinen Armen, an seinen Lippen zu fühlen III. Die junge Frau athmete erst wieder auf, als sie in ihrem Zimmer neben der Lampe stand. Sie hatte sie angezündet, die angstvolle Dunkelheit erhellte sich, sie sah wieder alle die gewohnten Dinge um sich her. Das Bettchen ihres Knaben stand neben dem ihren. Sie hörte den Kleinen in ruhigem Schlummer athmen, und das Blut stieg ihr vor innerer Verwirrung ins Gesicht. Die Musik von vorhin klang ihr wieder im Ohr, sie sah sich in Julius' Armen, fuhr von Neuem zusammen und fühlte doch die Aufregung aller ihrer Sinne. Es war etwas in ihr erwacht, vor dem sie sich fürchtete. Sie hatte sich nie so gekannt. Ein Gesangbuch lag neben ihr, -- das Buch, von dem sie vorhin ihre Photographie genommen, in dem die alte Rieke inzwischen gelesen hatte, die nun still auf dem Hof in der warmen Nachtluft saß. Sie schickte die Alte fort, nahm das Buch Ihr Blick flog umher, sie rang heftig nach Luft. Herr mein Gott! wiederholte sie dann und trat zurück. Julius! Lassen Sie mich gehn! Nein! flüsterte er, sprang in die Höhe und streckte die Hände nach ihr aus, um sie zu halten. Doch sie war zu schnell. Das Kopftuch war ihr bei seiner Umarmung in den Nacken geglitten; in der Auflegung riß sie es sich vom Halse, schlug damit nach seiner Hand und lief davon. Er wollte sie noch bei ihrem Namen rufen, aber Stimmen und Schritte, die sich näherten, brachten ihn zur Besinnung. Mit halb geöffneten Lippen blieb er stehen. Liesbeth, wie wenn er sie verfolgte, lief durch die Nacht weiter bis an ihr Haus, riß die Thür auf und warf sie hinter sich zu. Dann hörte er, wie der Schlüssel sich im Schlosse drehte. Er sah ihr nach wie einem Nachtgespenst, das vor seinen Augen zerflattert war, und glaubte sie doch noch in seinen Armen, an seinen Lippen zu fühlen III. Die junge Frau athmete erst wieder auf, als sie in ihrem Zimmer neben der Lampe stand. Sie hatte sie angezündet, die angstvolle Dunkelheit erhellte sich, sie sah wieder alle die gewohnten Dinge um sich her. Das Bettchen ihres Knaben stand neben dem ihren. Sie hörte den Kleinen in ruhigem Schlummer athmen, und das Blut stieg ihr vor innerer Verwirrung ins Gesicht. Die Musik von vorhin klang ihr wieder im Ohr, sie sah sich in Julius' Armen, fuhr von Neuem zusammen und fühlte doch die Aufregung aller ihrer Sinne. Es war etwas in ihr erwacht, vor dem sie sich fürchtete. Sie hatte sich nie so gekannt. Ein Gesangbuch lag neben ihr, — das Buch, von dem sie vorhin ihre Photographie genommen, in dem die alte Rieke inzwischen gelesen hatte, die nun still auf dem Hof in der warmen Nachtluft saß. 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Ein Gesangbuch lag neben ihr, — das Buch, von dem sie vorhin ihre Photographie genommen, in dem die alte Rieke inzwischen gelesen hatte, die nun still auf dem Hof in der warmen Nachtluft saß. Sie schickte die Alte fort, nahm das Buch<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0034]
Ihr Blick flog umher, sie rang heftig nach Luft. Herr mein Gott! wiederholte sie dann und trat zurück. Julius! Lassen Sie mich gehn!
Nein! flüsterte er, sprang in die Höhe und streckte die Hände nach ihr aus, um sie zu halten. Doch sie war zu schnell. Das Kopftuch war ihr bei seiner Umarmung in den Nacken geglitten; in der Auflegung riß sie es sich vom Halse, schlug damit nach seiner Hand und lief davon. Er wollte sie noch bei ihrem Namen rufen, aber Stimmen und Schritte, die sich näherten, brachten ihn zur Besinnung. Mit halb geöffneten Lippen blieb er stehen. Liesbeth, wie wenn er sie verfolgte, lief durch die Nacht weiter bis an ihr Haus, riß die Thür auf und warf sie hinter sich zu. Dann hörte er, wie der Schlüssel sich im Schlosse drehte. Er sah ihr nach wie einem Nachtgespenst, das vor seinen Augen zerflattert war, und glaubte sie doch noch in seinen Armen, an seinen Lippen zu fühlen
III. Die junge Frau athmete erst wieder auf, als sie in ihrem Zimmer neben der Lampe stand. Sie hatte sie angezündet, die angstvolle Dunkelheit erhellte sich, sie sah wieder alle die gewohnten Dinge um sich her. Das Bettchen ihres Knaben stand neben dem ihren. Sie hörte den Kleinen in ruhigem Schlummer athmen, und das Blut stieg ihr vor innerer Verwirrung ins Gesicht. Die Musik von vorhin klang ihr wieder im Ohr, sie sah sich in Julius' Armen, fuhr von Neuem zusammen und fühlte doch die Aufregung aller ihrer Sinne. Es war etwas in ihr erwacht, vor dem sie sich fürchtete. Sie hatte sich nie so gekannt. Ein Gesangbuch lag neben ihr, — das Buch, von dem sie vorhin ihre Photographie genommen, in dem die alte Rieke inzwischen gelesen hatte, die nun still auf dem Hof in der warmen Nachtluft saß. Sie schickte die Alte fort, nahm das Buch
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Zitationshilfe: | Wilbrandt, Adolph: Johann Ohlerich. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 7. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 267–332. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilbrandt_ohlerich_1910/34>, abgerufen am 16.02.2025. |