Wilbrandt, Adolph: Johann Ohlerich. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 7. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 267–332. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.schaft, daß Alt und Jung sie bis tief in die Nacht bewunderten, und so tanzte sich die schöne Liesbeth in die Ehe hinein, in der sie, nach der Meinung des Geistlichen und des Johann Ohlerich, ihrem Manne in allen Stücken gehorchen sollte. Indessen kam ihr nach und nach -- wie in jeder guten Haushaltung -- auch die Liebe ins Herz, und es hätte gewiß ihr größtes Glück ausgemacht, ihm treu zu sein, wenn seine Eifersucht nicht immer wieder ihren Trotz und ihr Trotz seine Eifersucht erregt hätte. Es war ihr nicht zu verargen, daß sie zur Sommers- wie zur Winterszeit in Mußestunden in ihrer Mutter Haus ging, und an ihr lag nicht die Schuld, wenn die Mutter im Sommer Miethgäste aus der Stadt in ihre Wohnung nahm, und zwar immer dieselben, mit denen Liesbeth schon seit sechs Jahren auf vertraulichem Fuße stand. Auch konnte es ihr nicht angerechnet werden, daß der junge Julius, der Sohn dieser Sommergäste, an dem allgemeinen Wachsthum der Menschen theilgenommen hatte, daß aus dem Knaben, den sie vor Zeiten im Krabbenfangen unterrichtet hatte, ein akademischer Jüngling mit schwachem Schnurrbart und starken Ausdrücken geworden war. Für seine schönen Augen konnte sie so wenig verantwortlich gemacht werden, wie für sein feuriges, verliebtes Temperament; und in ihrem unschuldigen Herzen war sie überzeugt, daß sie ihn nicht ermuthigt hatte, die Strahlen seines feurigen Temperaments grade auf sie zu werfen. Nichts führt leichter zur Vertraulichkeit, als das sichere Gefühl, daß gesellschaftliche Unterschiede die volle Vertraulichkeit unmöglich machen. Liesbeth war plattdeutsch, Herr Julius hochdeutsch aufgewachsen. Sie machte sich im frühesten Morgengrauen zum Sandfahren auf, wenn Julius, vom Champagnertrinken ausruhend, im ersten Schlaf von ihr träumte. Sie kämpfte in ihrem Fischerboot, bis auf die Haut durchnäßt, gegen die Spritzwellen an, wenn Julius im Dünensand auf dem Rücken lag, um Heine'sche Verse auf sie zu machen. Sie war seit seiner Geburt vier Jahre älter als schaft, daß Alt und Jung sie bis tief in die Nacht bewunderten, und so tanzte sich die schöne Liesbeth in die Ehe hinein, in der sie, nach der Meinung des Geistlichen und des Johann Ohlerich, ihrem Manne in allen Stücken gehorchen sollte. Indessen kam ihr nach und nach — wie in jeder guten Haushaltung — auch die Liebe ins Herz, und es hätte gewiß ihr größtes Glück ausgemacht, ihm treu zu sein, wenn seine Eifersucht nicht immer wieder ihren Trotz und ihr Trotz seine Eifersucht erregt hätte. Es war ihr nicht zu verargen, daß sie zur Sommers- wie zur Winterszeit in Mußestunden in ihrer Mutter Haus ging, und an ihr lag nicht die Schuld, wenn die Mutter im Sommer Miethgäste aus der Stadt in ihre Wohnung nahm, und zwar immer dieselben, mit denen Liesbeth schon seit sechs Jahren auf vertraulichem Fuße stand. Auch konnte es ihr nicht angerechnet werden, daß der junge Julius, der Sohn dieser Sommergäste, an dem allgemeinen Wachsthum der Menschen theilgenommen hatte, daß aus dem Knaben, den sie vor Zeiten im Krabbenfangen unterrichtet hatte, ein akademischer Jüngling mit schwachem Schnurrbart und starken Ausdrücken geworden war. Für seine schönen Augen konnte sie so wenig verantwortlich gemacht werden, wie für sein feuriges, verliebtes Temperament; und in ihrem unschuldigen Herzen war sie überzeugt, daß sie ihn nicht ermuthigt hatte, die Strahlen seines feurigen Temperaments grade auf sie zu werfen. Nichts führt leichter zur Vertraulichkeit, als das sichere Gefühl, daß gesellschaftliche Unterschiede die volle Vertraulichkeit unmöglich machen. Liesbeth war plattdeutsch, Herr Julius hochdeutsch aufgewachsen. Sie machte sich im frühesten Morgengrauen zum Sandfahren auf, wenn Julius, vom Champagnertrinken ausruhend, im ersten Schlaf von ihr träumte. Sie kämpfte in ihrem Fischerboot, bis auf die Haut durchnäßt, gegen die Spritzwellen an, wenn Julius im Dünensand auf dem Rücken lag, um Heine'sche Verse auf sie zu machen. 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Auch konnte es ihr nicht angerechnet werden, daß der junge Julius, der Sohn dieser Sommergäste, an dem allgemeinen Wachsthum der Menschen theilgenommen hatte, daß aus dem Knaben, den sie vor Zeiten im Krabbenfangen unterrichtet hatte, ein akademischer Jüngling mit schwachem Schnurrbart und starken Ausdrücken geworden war. Für seine schönen Augen konnte sie so wenig verantwortlich gemacht werden, wie für sein feuriges, verliebtes Temperament; und in ihrem unschuldigen Herzen war sie überzeugt, daß sie ihn nicht ermuthigt hatte, die Strahlen seines feurigen Temperaments grade auf sie zu werfen. Nichts führt leichter zur Vertraulichkeit, als das sichere Gefühl, daß gesellschaftliche Unterschiede die volle Vertraulichkeit unmöglich machen. Liesbeth war plattdeutsch, Herr Julius hochdeutsch aufgewachsen. Sie machte sich im frühesten Morgengrauen zum Sandfahren auf, wenn Julius, vom Champagnertrinken ausruhend, im ersten Schlaf von ihr träumte. Sie kämpfte in ihrem Fischerboot, bis auf die Haut durchnäßt, gegen die Spritzwellen an, wenn Julius im Dünensand auf dem Rücken lag, um Heine'sche Verse auf sie zu machen. Sie war seit seiner Geburt vier Jahre älter als<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0011]
schaft, daß Alt und Jung sie bis tief in die Nacht bewunderten, und so tanzte sich die schöne Liesbeth in die Ehe hinein, in der sie, nach der Meinung des Geistlichen und des Johann Ohlerich, ihrem Manne in allen Stücken gehorchen sollte.
Indessen kam ihr nach und nach — wie in jeder guten Haushaltung — auch die Liebe ins Herz, und es hätte gewiß ihr größtes Glück ausgemacht, ihm treu zu sein, wenn seine Eifersucht nicht immer wieder ihren Trotz und ihr Trotz seine Eifersucht erregt hätte. Es war ihr nicht zu verargen, daß sie zur Sommers- wie zur Winterszeit in Mußestunden in ihrer Mutter Haus ging, und an ihr lag nicht die Schuld, wenn die Mutter im Sommer Miethgäste aus der Stadt in ihre Wohnung nahm, und zwar immer dieselben, mit denen Liesbeth schon seit sechs Jahren auf vertraulichem Fuße stand. Auch konnte es ihr nicht angerechnet werden, daß der junge Julius, der Sohn dieser Sommergäste, an dem allgemeinen Wachsthum der Menschen theilgenommen hatte, daß aus dem Knaben, den sie vor Zeiten im Krabbenfangen unterrichtet hatte, ein akademischer Jüngling mit schwachem Schnurrbart und starken Ausdrücken geworden war. Für seine schönen Augen konnte sie so wenig verantwortlich gemacht werden, wie für sein feuriges, verliebtes Temperament; und in ihrem unschuldigen Herzen war sie überzeugt, daß sie ihn nicht ermuthigt hatte, die Strahlen seines feurigen Temperaments grade auf sie zu werfen. Nichts führt leichter zur Vertraulichkeit, als das sichere Gefühl, daß gesellschaftliche Unterschiede die volle Vertraulichkeit unmöglich machen. Liesbeth war plattdeutsch, Herr Julius hochdeutsch aufgewachsen. Sie machte sich im frühesten Morgengrauen zum Sandfahren auf, wenn Julius, vom Champagnertrinken ausruhend, im ersten Schlaf von ihr träumte. Sie kämpfte in ihrem Fischerboot, bis auf die Haut durchnäßt, gegen die Spritzwellen an, wenn Julius im Dünensand auf dem Rücken lag, um Heine'sche Verse auf sie zu machen. Sie war seit seiner Geburt vier Jahre älter als
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Zitationshilfe: | Wilbrandt, Adolph: Johann Ohlerich. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 7. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 267–332. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilbrandt_ohlerich_1910/11>, abgerufen am 16.02.2025. |