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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Was ist eine attische tragödie?
gnügen lustbarkeiten bei sich anzustellen wann und wie er mochte, und
so gab es noch lieder für die feste der vornehmen. Pindaros hat für
die Alkmeoniden, Euripides für Alkibiades gedichtet. aber das tritt gänz-
lich in den hintergrund vor den vom staate übernommenen und dem
festen jährlichen gottesdienste eingeordneten gelegenheiten, bei welchen
musische wettkämpfe angeordnet wurden, nur zum teil im anschlusse an
die bisherige übung. der staat brauchte alljährlich eine bestimmte recht
hohe zahl neuer gedichte, dramen und dithyramben: das volk, das noch
keinen bedeutenden eigenen dichter besass, traute sich zu, sie zu er-
zeugen. und es hat auch darin die höchsten erwartungen von der eignen
leistungsfähigkeit übertroffen.

Ein instrument des dichters war auch dieser chor, aber es ist doch
etwas anderes, ob man gedungene musikanten unter sich hat, oder die
vertreter des souveränen volkes. und der dichter wird ja auch selbst
anders dastehen, wenn er für irgend einen anlass auf bestellung oder
wunsch eines anderen oder auch aus eignem triebe schafft, als wenn er
zu bestimmten höchsten festen seines eigenen volkes für bestimmte ver-
treter desselben in einer halbamtlichen eigenschaft seine kunst übt. er
wird mehr mit der seele dabei sein als Simonides es wol je war, aber
minder aus eigner person zu reden wagen als es Pindar immer tat. der
staat und sein souverän, oder besser sein lebendiger leib, das volk, ist in
Athen die oberste macht. der dichter ist ein glied desselben, der chor
auch, beide ordnen sich ihm unter, der chor auch dem dichter, aber
dieser muss sich wie Perikles stets gegenwärtig halten, Athenaion arkheis.
selbst die tragödie zeigt von diesem verhältnisse die deutlichsten spuren.
der chor ist auch in ihr vertreter des volkes am religiösen feste: er geht
nicht ganz in seiner maske auf. der dichter ist dagegen der erbe der pin-
darischen persönlichen lehrer- und predigerstellung: auch er verschwindet
nicht ganz hinter seinen personen. dies verhältnis war in dem ursprunge
der ganzen gattung begründet; es hat sich wol verloren, aber nicht im
laufe des 5. jahrhunderts. die abstracte betrachtung mag sich dazu stellen
wie sie will: die geschichtliche hat mit dieser besonderheit durchgehends
zu rechnen 40).

Attische di-
thyramben.

Die chöre, die man stellte, unterschied man in chöre von tragodoi
und einfach von männern und knaben. diese nannte man auch wol die
'rundtänze' (kuklioi khoroi), nicht weil die tänzer hier in einem rund
geordnet waren, in der tragödie aber in einem viereck, wie wol gramma-

40) Der Herakles selbst gibt für die wichtigkeit der sache hinreichende belege,
die ihres ortes genauer erläutert sind.

Was ist eine attische tragödie?
gnügen lustbarkeiten bei sich anzustellen wann und wie er mochte, und
so gab es noch lieder für die feste der vornehmen. Pindaros hat für
die Alkmeoniden, Euripides für Alkibiades gedichtet. aber das tritt gänz-
lich in den hintergrund vor den vom staate übernommenen und dem
festen jährlichen gottesdienste eingeordneten gelegenheiten, bei welchen
musische wettkämpfe angeordnet wurden, nur zum teil im anschlusse an
die bisherige übung. der staat brauchte alljährlich eine bestimmte recht
hohe zahl neuer gedichte, dramen und dithyramben: das volk, das noch
keinen bedeutenden eigenen dichter besaſs, traute sich zu, sie zu er-
zeugen. und es hat auch darin die höchsten erwartungen von der eignen
leistungsfähigkeit übertroffen.

Ein instrument des dichters war auch dieser chor, aber es ist doch
etwas anderes, ob man gedungene musikanten unter sich hat, oder die
vertreter des souveränen volkes. und der dichter wird ja auch selbst
anders dastehen, wenn er für irgend einen anlaſs auf bestellung oder
wunsch eines anderen oder auch aus eignem triebe schafft, als wenn er
zu bestimmten höchsten festen seines eigenen volkes für bestimmte ver-
treter desselben in einer halbamtlichen eigenschaft seine kunst übt. er
wird mehr mit der seele dabei sein als Simonides es wol je war, aber
minder aus eigner person zu reden wagen als es Pindar immer tat. der
staat und sein souverän, oder besser sein lebendiger leib, das volk, ist in
Athen die oberste macht. der dichter ist ein glied desselben, der chor
auch, beide ordnen sich ihm unter, der chor auch dem dichter, aber
dieser muſs sich wie Perikles stets gegenwärtig halten, Ἀϑηναίων ἄρχεις.
selbst die tragödie zeigt von diesem verhältnisse die deutlichsten spuren.
der chor ist auch in ihr vertreter des volkes am religiösen feste: er geht
nicht ganz in seiner maske auf. der dichter ist dagegen der erbe der pin-
darischen persönlichen lehrer- und predigerstellung: auch er verschwindet
nicht ganz hinter seinen personen. dies verhältnis war in dem ursprunge
der ganzen gattung begründet; es hat sich wol verloren, aber nicht im
laufe des 5. jahrhunderts. die abstracte betrachtung mag sich dazu stellen
wie sie will: die geschichtliche hat mit dieser besonderheit durchgehends
zu rechnen 40).

Attische di-
thyramben.

Die chöre, die man stellte, unterschied man in chöre von τραγῳδοί
und einfach von männern und knaben. diese nannte man auch wol die
‘rundtänze’ (κύκλιοι χοροί), nicht weil die tänzer hier in einem rund
geordnet waren, in der tragödie aber in einem viereck, wie wol gramma-

40) Der Herakles selbst gibt für die wichtigkeit der sache hinreichende belege,
die ihres ortes genauer erläutert sind.
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[78/0098] Was ist eine attische tragödie? gnügen lustbarkeiten bei sich anzustellen wann und wie er mochte, und so gab es noch lieder für die feste der vornehmen. Pindaros hat für die Alkmeoniden, Euripides für Alkibiades gedichtet. aber das tritt gänz- lich in den hintergrund vor den vom staate übernommenen und dem festen jährlichen gottesdienste eingeordneten gelegenheiten, bei welchen musische wettkämpfe angeordnet wurden, nur zum teil im anschlusse an die bisherige übung. der staat brauchte alljährlich eine bestimmte recht hohe zahl neuer gedichte, dramen und dithyramben: das volk, das noch keinen bedeutenden eigenen dichter besaſs, traute sich zu, sie zu er- zeugen. und es hat auch darin die höchsten erwartungen von der eignen leistungsfähigkeit übertroffen. Ein instrument des dichters war auch dieser chor, aber es ist doch etwas anderes, ob man gedungene musikanten unter sich hat, oder die vertreter des souveränen volkes. und der dichter wird ja auch selbst anders dastehen, wenn er für irgend einen anlaſs auf bestellung oder wunsch eines anderen oder auch aus eignem triebe schafft, als wenn er zu bestimmten höchsten festen seines eigenen volkes für bestimmte ver- treter desselben in einer halbamtlichen eigenschaft seine kunst übt. er wird mehr mit der seele dabei sein als Simonides es wol je war, aber minder aus eigner person zu reden wagen als es Pindar immer tat. der staat und sein souverän, oder besser sein lebendiger leib, das volk, ist in Athen die oberste macht. der dichter ist ein glied desselben, der chor auch, beide ordnen sich ihm unter, der chor auch dem dichter, aber dieser muſs sich wie Perikles stets gegenwärtig halten, Ἀϑηναίων ἄρχεις. selbst die tragödie zeigt von diesem verhältnisse die deutlichsten spuren. der chor ist auch in ihr vertreter des volkes am religiösen feste: er geht nicht ganz in seiner maske auf. der dichter ist dagegen der erbe der pin- darischen persönlichen lehrer- und predigerstellung: auch er verschwindet nicht ganz hinter seinen personen. dies verhältnis war in dem ursprunge der ganzen gattung begründet; es hat sich wol verloren, aber nicht im laufe des 5. jahrhunderts. die abstracte betrachtung mag sich dazu stellen wie sie will: die geschichtliche hat mit dieser besonderheit durchgehends zu rechnen 40). Die chöre, die man stellte, unterschied man in chöre von τραγῳδοί und einfach von männern und knaben. diese nannte man auch wol die ‘rundtänze’ (κύκλιοι χοροί), nicht weil die tänzer hier in einem rund geordnet waren, in der tragödie aber in einem viereck, wie wol gramma- 40) Der Herakles selbst gibt für die wichtigkeit der sache hinreichende belege, die ihres ortes genauer erläutert sind.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 78. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/98>, abgerufen am 27.11.2024.