stand. der culturkreis von Korinth und Argos, Theben und Chalkis ver- schliesst sich dieser poesie. auch nach dem westen kommt sie so wenig wie das epos. denn als Theognis in den beiden Megara dichtet, ist bereits Athen mehr massgebend als Korinth. der iambos vollends, der volkstüm- lichere kräftigere bruder der elegie, ist auf Athen beschränkt geblieben: dass Solon ihn dort eingebürgert hat, sollte allerdings die ungeahntesten früchte tragen.
Das lied.
Das lied, das nicht der dumpfen menge ertönt, das der dichter nicht singt die menschen zu bessern und zu bekehren, noch sie zu er- götzen und zu unterhalten, das er nur der Muse oder etwa der geliebten singt, das echte lied ertönt von Lesbos und nur von Lesbos; es ertönt als der schwanensang der sterbenden aeolischen cultur. Sappho steht einzig da in der ganzen stolzen geschichte des griechischen geistes: und wenn sie nicht so ganz natur wäre, würde man sie für unbegreiflich halten. für die eigentliche lyrik gilt in noch höherem masse als für die poesie überhaupt, dass nur das allerbeste lebensfähig ist. wol täuscht sich die gegenwart über den wert des sanges, der von allen lippen tönt, besonders stark; aber die nachwelt ist dafür um so grausamer. deshalb erkennt man die übergänge schwer. man wird ja nicht bezweifeln, dass trotz dem schweigen der überlieferung neben der lesbischen nachtigall auch in Ionien mancherlei vöglein gezwitschert und gepfiffen haben, ein jegliches bewundert in seinem haine. und gesungen hat das lokrische und peloponnesische mädchen bei der spindel und beim wassertragen ohne zweifel auch: aber das alles ist spurlos in die winde verhallt. weder hier noch dort war für das lied im 7. und 6. jahrhundert eine stätte. das gebun- dene wesen der ritterschaftlichen cultur liess die knospen des herzens noch nicht springen. in den sich immer mehr demokratisirenden städten Asiens wehten die frühlingsstürme, die den boden befruchten, schoss die heisse sonne einer arbeitsfrohen geschäftigkeit ihre raschreifenden stralen: da begehrte man keine frühlingsblumen und träumte nicht am bachesrand. die tieferen geister grübelten über gott und welt, die menge jagte nach macht und gold; sie verschmähte wie alle guten dinge auch das lied nicht, aber ihre lyrik war nur die der begierde und des genusses. Anakreon mochte im kreise der zechbrüder am üppigen hofe des Polykrates von wein und liebchen singen, mit vollendeter grazie, aber ohne dass selbst in den knabenliedern das herz stärker mitspräche. einem ernsten manne würde diese poesie zuwider werden müssen, wenn nicht der dichter sich als ein wirklicher bewiese, nephon kan bakkheumasin, immer seinem stoffe überlegen, das ganze treiben und sich selbst leise ironisirend. aber
Was ist eine attische tragödie?
stand. der culturkreis von Korinth und Argos, Theben und Chalkis ver- schlieſst sich dieser poesie. auch nach dem westen kommt sie so wenig wie das epos. denn als Theognis in den beiden Megara dichtet, ist bereits Athen mehr maſsgebend als Korinth. der iambos vollends, der volkstüm- lichere kräftigere bruder der elegie, ist auf Athen beschränkt geblieben: daſs Solon ihn dort eingebürgert hat, sollte allerdings die ungeahntesten früchte tragen.
Das lied.
Das lied, das nicht der dumpfen menge ertönt, das der dichter nicht singt die menschen zu bessern und zu bekehren, noch sie zu er- götzen und zu unterhalten, das er nur der Muse oder etwa der geliebten singt, das echte lied ertönt von Lesbos und nur von Lesbos; es ertönt als der schwanensang der sterbenden aeolischen cultur. Sappho steht einzig da in der ganzen stolzen geschichte des griechischen geistes: und wenn sie nicht so ganz natur wäre, würde man sie für unbegreiflich halten. für die eigentliche lyrik gilt in noch höherem maſse als für die poesie überhaupt, daſs nur das allerbeste lebensfähig ist. wol täuscht sich die gegenwart über den wert des sanges, der von allen lippen tönt, besonders stark; aber die nachwelt ist dafür um so grausamer. deshalb erkennt man die übergänge schwer. man wird ja nicht bezweifeln, daſs trotz dem schweigen der überlieferung neben der lesbischen nachtigall auch in Ionien mancherlei vöglein gezwitschert und gepfiffen haben, ein jegliches bewundert in seinem haine. und gesungen hat das lokrische und peloponnesische mädchen bei der spindel und beim wassertragen ohne zweifel auch: aber das alles ist spurlos in die winde verhallt. weder hier noch dort war für das lied im 7. und 6. jahrhundert eine stätte. das gebun- dene wesen der ritterschaftlichen cultur lieſs die knospen des herzens noch nicht springen. in den sich immer mehr demokratisirenden städten Asiens wehten die frühlingsstürme, die den boden befruchten, schoſs die heiſse sonne einer arbeitsfrohen geschäftigkeit ihre raschreifenden stralen: da begehrte man keine frühlingsblumen und träumte nicht am bachesrand. die tieferen geister grübelten über gott und welt, die menge jagte nach macht und gold; sie verschmähte wie alle guten dinge auch das lied nicht, aber ihre lyrik war nur die der begierde und des genusses. Anakreon mochte im kreise der zechbrüder am üppigen hofe des Polykrates von wein und liebchen singen, mit vollendeter grazie, aber ohne daſs selbst in den knabenliedern das herz stärker mitspräche. einem ernsten manne würde diese poesie zuwider werden müssen, wenn nicht der dichter sich als ein wirklicher bewiese, νήφων κἀν βακχεύμασιν, immer seinem stoffe überlegen, das ganze treiben und sich selbst leise ironisirend. aber
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Was ist eine attische tragödie?
stand. der culturkreis von Korinth und Argos, Theben und Chalkis ver-
schlieſst sich dieser poesie. auch nach dem westen kommt sie so wenig
wie das epos. denn als Theognis in den beiden Megara dichtet, ist bereits
Athen mehr maſsgebend als Korinth. der iambos vollends, der volkstüm-
lichere kräftigere bruder der elegie, ist auf Athen beschränkt geblieben:
daſs Solon ihn dort eingebürgert hat, sollte allerdings die ungeahntesten
früchte tragen.
Das lied, das nicht der dumpfen menge ertönt, das der dichter
nicht singt die menschen zu bessern und zu bekehren, noch sie zu er-
götzen und zu unterhalten, das er nur der Muse oder etwa der geliebten
singt, das echte lied ertönt von Lesbos und nur von Lesbos; es ertönt
als der schwanensang der sterbenden aeolischen cultur. Sappho steht
einzig da in der ganzen stolzen geschichte des griechischen geistes: und
wenn sie nicht so ganz natur wäre, würde man sie für unbegreiflich
halten. für die eigentliche lyrik gilt in noch höherem maſse als für die
poesie überhaupt, daſs nur das allerbeste lebensfähig ist. wol täuscht sich
die gegenwart über den wert des sanges, der von allen lippen tönt,
besonders stark; aber die nachwelt ist dafür um so grausamer. deshalb
erkennt man die übergänge schwer. man wird ja nicht bezweifeln, daſs
trotz dem schweigen der überlieferung neben der lesbischen nachtigall
auch in Ionien mancherlei vöglein gezwitschert und gepfiffen haben, ein
jegliches bewundert in seinem haine. und gesungen hat das lokrische und
peloponnesische mädchen bei der spindel und beim wassertragen ohne
zweifel auch: aber das alles ist spurlos in die winde verhallt. weder hier
noch dort war für das lied im 7. und 6. jahrhundert eine stätte. das gebun-
dene wesen der ritterschaftlichen cultur lieſs die knospen des herzens noch
nicht springen. in den sich immer mehr demokratisirenden städten Asiens
wehten die frühlingsstürme, die den boden befruchten, schoſs die heiſse
sonne einer arbeitsfrohen geschäftigkeit ihre raschreifenden stralen: da
begehrte man keine frühlingsblumen und träumte nicht am bachesrand.
die tieferen geister grübelten über gott und welt, die menge jagte nach
macht und gold; sie verschmähte wie alle guten dinge auch das lied nicht,
aber ihre lyrik war nur die der begierde und des genusses. Anakreon
mochte im kreise der zechbrüder am üppigen hofe des Polykrates von
wein und liebchen singen, mit vollendeter grazie, aber ohne daſs selbst
in den knabenliedern das herz stärker mitspräche. einem ernsten manne
würde diese poesie zuwider werden müssen, wenn nicht der dichter sich
als ein wirklicher bewiese, νήφων κἀν βακχεύμασιν, immer seinem
stoffe überlegen, das ganze treiben und sich selbst leise ironisirend. aber
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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 70. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/90>, abgerufen am 26.07.2024.
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