Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.Was ist eine attische tragödie? ist und bleibt was in der poetik steht. die tragödie stammt ab vonden sängern des dithyrambos; sie ist zuerst satyrspiel gewesen in leb- haften tanzrhythmen und lustiger sprache; den zweiten schauspieler hat erst Aischylos eingeführt und den chor von der protagonistenstelle zurück- gedrängt; der dritte schauspieler stammt erst von Sophokles. mit diesen allbekannten notizen hat zu allen zeiten jeder gerechnet; der fortschritt aber liegt darin, dass wir erstens jede spätere überlieferung zunächst fern halten, zweitens eine vorstellung davon haben, woher Aristoteles seine kenntnis hat, was er überhaupt wissen konnte. ob er ein drama aus dem sechsten jahrhundert gelesen hat, ist fraglich; die spätere zeit besass keins mehr 6), und Thespis z. b. war schon für Aristoteles nur ein name. immerhin konnte er incunabeln genug lesen, um sich über den charakter des ältesten spieles zu unterrichten. das wichtigste aber war, dass in den archiven des mit der ausrichtung der spiele betrauten beamten sich das reiche und zuverlässige material befand, um die aufführungszeit jeder einzelnen tragödie und die äussere einrichtung der schauspiele kennen zu lernen, und die über die heiligtümer der stadt verstreuten weihgeschenke, die freilich nur ausnahmsweise über die persische invasion hinaufreichen konnten, brachten erwünschte controlle und erweiterung; sie sind nachweislich von Aristoteles benutzt 7). das so gesammelte mate- 6) Von Choirilos ist eine mythographische angabe und ein als tropus ange- führter vers auf uns gekommen. die grammatiker kennen ihn nicht mehr. jene er- wähnungen können sehr wol auf schriftsteller aristotelischer zeit zurückgehen. die lyrischen fragmente des Pratinas stammen alle aus einem musikgeschichtlichen werke, da sie sich auf musik beziehen; von einer tragödie ist ein wort aus zoologischem interesse gerettet, wol aus einem schriftsteller wie Speusippos oder Phainias. mehr gibt es von Phrynichos, nicht bloss bei mythographen, sondern auch bei gramma- tikern. allein dass die von ihm erhaltenen tragödien nicht aus der zeit des Aischylos gewesen wären, ist weder erweislich noch wahrscheinlich. im grösseren publicum ist in den vorchristlichen jahrhunderten noch hier und da etwas von einem andern dichter als den dreien gelesen und gespielt worden: nach Christus ist nur die kenntnis des Ion bei Plutarch nachweislich und auch sonst glaublich, da noch commentare geschrieben werden. die jüngeren tragiker las man längst nicht mehr; dass sich ein- zelne verse in die florilegien gerettet haben, beweist nur, wie alt deren grund- stock ist. 7) Er führt ein gemälde, weihgeschenk wegen komischen sieges, an, Polit. Th 6.
die früher meist vorgetragene ansicht, dass die didaskalien auf diese weihgeschenke allein zurückgiengen, ist ganz verkehrt. sie enthalten viel mehr; denn die namen der stücke, der unterlegenen concurrenten und deren stücke waren nimmermehr auf steinen zu lesen. also sind archivalische studien unzweifelhaft. dort stand aber ver- mutlich noch sehr viel mehr, und z. b. was wir über costumveränderungen er- fahren, wird daher stammen. man könnte noch mehr vermuten, wenn nicht ganz Was ist eine attische tragödie? ist und bleibt was in der poetik steht. die tragödie stammt ab vonden sängern des dithyrambos; sie ist zuerst satyrspiel gewesen in leb- haften tanzrhythmen und lustiger sprache; den zweiten schauspieler hat erst Aischylos eingeführt und den chor von der protagonistenstelle zurück- gedrängt; der dritte schauspieler stammt erst von Sophokles. mit diesen allbekannten notizen hat zu allen zeiten jeder gerechnet; der fortschritt aber liegt darin, daſs wir erstens jede spätere überlieferung zunächst fern halten, zweitens eine vorstellung davon haben, woher Aristoteles seine kenntnis hat, was er überhaupt wissen konnte. ob er ein drama aus dem sechsten jahrhundert gelesen hat, ist fraglich; die spätere zeit besaſs keins mehr 6), und Thespis z. b. war schon für Aristoteles nur ein name. immerhin konnte er incunabeln genug lesen, um sich über den charakter des ältesten spieles zu unterrichten. das wichtigste aber war, daſs in den archiven des mit der ausrichtung der spiele betrauten beamten sich das reiche und zuverlässige material befand, um die aufführungszeit jeder einzelnen tragödie und die äuſsere einrichtung der schauspiele kennen zu lernen, und die über die heiligtümer der stadt verstreuten weihgeschenke, die freilich nur ausnahmsweise über die persische invasion hinaufreichen konnten, brachten erwünschte controlle und erweiterung; sie sind nachweislich von Aristoteles benutzt 7). das so gesammelte mate- 6) Von Choirilos ist eine mythographische angabe und ein als tropus ange- führter vers auf uns gekommen. die grammatiker kennen ihn nicht mehr. jene er- wähnungen können sehr wol auf schriftsteller aristotelischer zeit zurückgehen. die lyrischen fragmente des Pratinas stammen alle aus einem musikgeschichtlichen werke, da sie sich auf musik beziehen; von einer tragödie ist ein wort aus zoologischem interesse gerettet, wol aus einem schriftsteller wie Speusippos oder Phainias. mehr gibt es von Phrynichos, nicht bloſs bei mythographen, sondern auch bei gramma- tikern. allein daſs die von ihm erhaltenen tragödien nicht aus der zeit des Aischylos gewesen wären, ist weder erweislich noch wahrscheinlich. im gröſseren publicum ist in den vorchristlichen jahrhunderten noch hier und da etwas von einem andern dichter als den dreien gelesen und gespielt worden: nach Christus ist nur die kenntnis des Ion bei Plutarch nachweislich und auch sonst glaublich, da noch commentare geschrieben werden. die jüngeren tragiker las man längst nicht mehr; daſs sich ein- zelne verse in die florilegien gerettet haben, beweist nur, wie alt deren grund- stock ist. 7) Er führt ein gemälde, weihgeschenk wegen komischen sieges, an, Polit. Θ 6.
die früher meist vorgetragene ansicht, daſs die didaskalien auf diese weihgeschenke allein zurückgiengen, ist ganz verkehrt. sie enthalten viel mehr; denn die namen der stücke, der unterlegenen concurrenten und deren stücke waren nimmermehr auf steinen zu lesen. also sind archivalische studien unzweifelhaft. dort stand aber ver- mutlich noch sehr viel mehr, und z. b. was wir über costumveränderungen er- fahren, wird daher stammen. man könnte noch mehr vermuten, wenn nicht ganz <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0070" n="50"/><fw place="top" type="header">Was ist eine attische tragödie?</fw><lb/> ist und bleibt was in der poetik steht. die tragödie stammt ab von<lb/> den sängern des dithyrambos; sie ist zuerst satyrspiel gewesen in leb-<lb/> haften tanzrhythmen und lustiger sprache; den zweiten schauspieler hat<lb/> erst Aischylos eingeführt und den chor von der protagonistenstelle zurück-<lb/> gedrängt; der dritte schauspieler stammt erst von Sophokles. mit diesen<lb/> allbekannten notizen hat zu allen zeiten jeder gerechnet; der fortschritt<lb/> aber liegt darin, daſs wir erstens jede spätere überlieferung zunächst fern<lb/> halten, zweitens eine vorstellung davon haben, woher Aristoteles seine<lb/> kenntnis hat, was er überhaupt wissen konnte. ob er ein drama aus<lb/> dem sechsten jahrhundert gelesen hat, ist fraglich; die spätere zeit besaſs<lb/> keins mehr <note place="foot" n="6)">Von Choirilos ist eine mythographische angabe und ein als tropus ange-<lb/> führter vers auf uns gekommen. die grammatiker kennen ihn nicht mehr. jene er-<lb/> wähnungen können sehr wol auf schriftsteller aristotelischer zeit zurückgehen. die<lb/> lyrischen fragmente des Pratinas stammen alle aus einem musikgeschichtlichen werke,<lb/> da sie sich auf musik beziehen; von einer tragödie ist ein wort aus zoologischem<lb/> interesse gerettet, wol aus einem schriftsteller wie Speusippos oder Phainias. mehr<lb/> gibt es von Phrynichos, nicht bloſs bei mythographen, sondern auch bei gramma-<lb/> tikern. allein daſs die von ihm erhaltenen tragödien nicht aus der zeit des Aischylos<lb/> gewesen wären, ist weder erweislich noch wahrscheinlich. im gröſseren publicum<lb/> ist in den vorchristlichen jahrhunderten noch hier und da etwas von einem andern<lb/> dichter als den dreien gelesen und gespielt worden: nach Christus ist nur die kenntnis<lb/> des Ion bei Plutarch nachweislich und auch sonst glaublich, da noch commentare<lb/> geschrieben werden. die jüngeren tragiker las man längst nicht mehr; daſs sich ein-<lb/> zelne verse in die florilegien gerettet haben, beweist nur, wie alt deren grund-<lb/> stock ist.</note>, und Thespis z. b. war schon für Aristoteles nur ein<lb/> name. immerhin konnte er incunabeln genug lesen, um sich über den<lb/> charakter des ältesten spieles zu unterrichten. das wichtigste aber war,<lb/> daſs in den archiven des mit der ausrichtung der spiele betrauten beamten<lb/> sich das reiche und zuverlässige material befand, um die aufführungszeit<lb/> jeder einzelnen tragödie und die äuſsere einrichtung der schauspiele<lb/> kennen zu lernen, und die über die heiligtümer der stadt verstreuten<lb/> weihgeschenke, die freilich nur ausnahmsweise über die persische invasion<lb/> hinaufreichen konnten, brachten erwünschte controlle und erweiterung;<lb/> sie sind nachweislich von Aristoteles benutzt <note xml:id="note-0070" next="#note-0071" place="foot" n="7)">Er führt ein gemälde, weihgeschenk wegen komischen sieges, an, Polit. Θ 6.<lb/> die früher meist vorgetragene ansicht, daſs die didaskalien auf diese weihgeschenke<lb/> allein zurückgiengen, ist ganz verkehrt. sie enthalten viel mehr; denn die namen<lb/> der stücke, der unterlegenen concurrenten und deren stücke waren nimmermehr auf<lb/> steinen zu lesen. also sind archivalische studien unzweifelhaft. dort stand aber ver-<lb/> mutlich noch sehr viel mehr, und z. b. was wir über costumveränderungen er-<lb/> fahren, wird daher stammen. man könnte noch mehr vermuten, wenn nicht ganz</note>. das so gesammelte mate-<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [50/0070]
Was ist eine attische tragödie?
ist und bleibt was in der poetik steht. die tragödie stammt ab von
den sängern des dithyrambos; sie ist zuerst satyrspiel gewesen in leb-
haften tanzrhythmen und lustiger sprache; den zweiten schauspieler hat
erst Aischylos eingeführt und den chor von der protagonistenstelle zurück-
gedrängt; der dritte schauspieler stammt erst von Sophokles. mit diesen
allbekannten notizen hat zu allen zeiten jeder gerechnet; der fortschritt
aber liegt darin, daſs wir erstens jede spätere überlieferung zunächst fern
halten, zweitens eine vorstellung davon haben, woher Aristoteles seine
kenntnis hat, was er überhaupt wissen konnte. ob er ein drama aus
dem sechsten jahrhundert gelesen hat, ist fraglich; die spätere zeit besaſs
keins mehr 6), und Thespis z. b. war schon für Aristoteles nur ein
name. immerhin konnte er incunabeln genug lesen, um sich über den
charakter des ältesten spieles zu unterrichten. das wichtigste aber war,
daſs in den archiven des mit der ausrichtung der spiele betrauten beamten
sich das reiche und zuverlässige material befand, um die aufführungszeit
jeder einzelnen tragödie und die äuſsere einrichtung der schauspiele
kennen zu lernen, und die über die heiligtümer der stadt verstreuten
weihgeschenke, die freilich nur ausnahmsweise über die persische invasion
hinaufreichen konnten, brachten erwünschte controlle und erweiterung;
sie sind nachweislich von Aristoteles benutzt 7). das so gesammelte mate-
6) Von Choirilos ist eine mythographische angabe und ein als tropus ange-
führter vers auf uns gekommen. die grammatiker kennen ihn nicht mehr. jene er-
wähnungen können sehr wol auf schriftsteller aristotelischer zeit zurückgehen. die
lyrischen fragmente des Pratinas stammen alle aus einem musikgeschichtlichen werke,
da sie sich auf musik beziehen; von einer tragödie ist ein wort aus zoologischem
interesse gerettet, wol aus einem schriftsteller wie Speusippos oder Phainias. mehr
gibt es von Phrynichos, nicht bloſs bei mythographen, sondern auch bei gramma-
tikern. allein daſs die von ihm erhaltenen tragödien nicht aus der zeit des Aischylos
gewesen wären, ist weder erweislich noch wahrscheinlich. im gröſseren publicum
ist in den vorchristlichen jahrhunderten noch hier und da etwas von einem andern
dichter als den dreien gelesen und gespielt worden: nach Christus ist nur die kenntnis
des Ion bei Plutarch nachweislich und auch sonst glaublich, da noch commentare
geschrieben werden. die jüngeren tragiker las man längst nicht mehr; daſs sich ein-
zelne verse in die florilegien gerettet haben, beweist nur, wie alt deren grund-
stock ist.
7) Er führt ein gemälde, weihgeschenk wegen komischen sieges, an, Polit. Θ 6.
die früher meist vorgetragene ansicht, daſs die didaskalien auf diese weihgeschenke
allein zurückgiengen, ist ganz verkehrt. sie enthalten viel mehr; denn die namen
der stücke, der unterlegenen concurrenten und deren stücke waren nimmermehr auf
steinen zu lesen. also sind archivalische studien unzweifelhaft. dort stand aber ver-
mutlich noch sehr viel mehr, und z. b. was wir über costumveränderungen er-
fahren, wird daher stammen. man könnte noch mehr vermuten, wenn nicht ganz
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