Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.Der Herakles des Euripides. doch eine gesangpartie eingelegt ist, schweigt er. und statt der bewegtenbilder und des lebhaften spiels, nicht bloss in der wahnsinnsscene, sondern auch im ersten teile, verharrt nun Herakles, an dem unser interesse hängt, unbeweglich vor der säule sitzend, und treten erst Amphitryon, dann The- seus nur ein par mal an ihn heran: im wesentlichen bewegt sich nur das gespräch hin und her, nicht die redner, und wenn der schluss ein pla- stisches bild voll rührendsten affectes bietet, Herakles seinen arm um des freundes schulter schlingend und schwankenden schrittes von der bühne fortziehend52), so hebt der dichter hervor, dass dieses bild als widerspiel des ungleich reicheren gedacht ist, welches die scene des rettenden Herakles abschloss. in allem dem ist der wille unverkennbar, etwas anderes, neues, schlicht menschliches im gegensatze zu dem herkömm- lichen, bunt mythischen zu liefern. es darf nicht verschwiegen noch verschleiert werden, dass der contrast dieser scene zu der vorigen, ja zu dem ganzen drama, beiden teilen eintrag tut, dass das ganze werk wesent- lich hierdurch einen disharmonischen eindruck macht: werfe den stein auf den dichter, wer von dem sohne einer anderen zeit und einer neuen bildung fordert zu dichten wie Aischylos, oder von dem, der an Aischylos unmittelbar angesetzt hat, zu dichten, wie dann erst wieder Goethe ge- dichtet hat, ohne nachfolge zu finden. wer nur verstehen will, der soll lernen, dass diese disharmonie im vollkommenen einklange steht zu der disharmonie in der seele des dichters, und dass er aus der vollsten em- pfindung einer grossen dichterseele bewusst disharmonisch geschaffen hat. dramas. Euripides hat den Herakles der sage verstanden in seiner grösse und 52) Es sei daran erinnert, dass die grosse malerei der polygnotischen zeit eine
solche gruppe dargestellt hatte, welche vielfache nachbildung und umbildung erfuhr. Benndorf Heroon von Gjöl Baschi 114. Der Herakles des Euripides. doch eine gesangpartie eingelegt ist, schweigt er. und statt der bewegtenbilder und des lebhaften spiels, nicht bloſs in der wahnsinnsscene, sondern auch im ersten teile, verharrt nun Herakles, an dem unser interesse hängt, unbeweglich vor der säule sitzend, und treten erst Amphitryon, dann The- seus nur ein par mal an ihn heran: im wesentlichen bewegt sich nur das gespräch hin und her, nicht die redner, und wenn der schluſs ein pla- stisches bild voll rührendsten affectes bietet, Herakles seinen arm um des freundes schulter schlingend und schwankenden schrittes von der bühne fortziehend52), so hebt der dichter hervor, daſs dieses bild als widerspiel des ungleich reicheren gedacht ist, welches die scene des rettenden Herakles abschloſs. in allem dem ist der wille unverkennbar, etwas anderes, neues, schlicht menschliches im gegensatze zu dem herkömm- lichen, bunt mythischen zu liefern. es darf nicht verschwiegen noch verschleiert werden, daſs der contrast dieser scene zu der vorigen, ja zu dem ganzen drama, beiden teilen eintrag tut, daſs das ganze werk wesent- lich hierdurch einen disharmonischen eindruck macht: werfe den stein auf den dichter, wer von dem sohne einer anderen zeit und einer neuen bildung fordert zu dichten wie Aischylos, oder von dem, der an Aischylos unmittelbar angesetzt hat, zu dichten, wie dann erst wieder Goethe ge- dichtet hat, ohne nachfolge zu finden. wer nur verstehen will, der soll lernen, daſs diese disharmonie im vollkommenen einklange steht zu der disharmonie in der seele des dichters, und daſs er aus der vollsten em- pfindung einer groſsen dichterseele bewuſst disharmonisch geschaffen hat. dramas. Euripides hat den Herakles der sage verstanden in seiner gröſse und 52) Es sei daran erinnert, daſs die groſse malerei der polygnotischen zeit eine
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Der Herakles des Euripides.
doch eine gesangpartie eingelegt ist, schweigt er. und statt der bewegten
bilder und des lebhaften spiels, nicht bloſs in der wahnsinnsscene, sondern
auch im ersten teile, verharrt nun Herakles, an dem unser interesse hängt,
unbeweglich vor der säule sitzend, und treten erst Amphitryon, dann The-
seus nur ein par mal an ihn heran: im wesentlichen bewegt sich nur das
gespräch hin und her, nicht die redner, und wenn der schluſs ein pla-
stisches bild voll rührendsten affectes bietet, Herakles seinen arm um des
freundes schulter schlingend und schwankenden schrittes von der bühne
fortziehend 52), so hebt der dichter hervor, daſs dieses bild als widerspiel
des ungleich reicheren gedacht ist, welches die scene des rettenden
Herakles abschloſs. in allem dem ist der wille unverkennbar, etwas
anderes, neues, schlicht menschliches im gegensatze zu dem herkömm-
lichen, bunt mythischen zu liefern. es darf nicht verschwiegen noch
verschleiert werden, daſs der contrast dieser scene zu der vorigen, ja zu
dem ganzen drama, beiden teilen eintrag tut, daſs das ganze werk wesent-
lich hierdurch einen disharmonischen eindruck macht: werfe den stein
auf den dichter, wer von dem sohne einer anderen zeit und einer neuen
bildung fordert zu dichten wie Aischylos, oder von dem, der an Aischylos
unmittelbar angesetzt hat, zu dichten, wie dann erst wieder Goethe ge-
dichtet hat, ohne nachfolge zu finden. wer nur verstehen will, der soll
lernen, daſs diese disharmonie im vollkommenen einklange steht zu der
disharmonie in der seele des dichters, und daſs er aus der vollsten em-
pfindung einer groſsen dichterseele bewuſst disharmonisch geschaffen hat.
Euripides hat den Herakles der sage verstanden in seiner gröſse und
hat ihn ganz als voraussetzung seines dramas übernommen. des ist zeuge
der erste teil, der den ἀλεξίκακος und καλλίνικος in dieser eigenschaft
handelnd einführt, der in den drei groſsen chorliedern die Heraklessage in
ihrer erhabenheit verherrlicht, einschlieſslich der überwindung des Alters,
der erwerbung der ewigen jugend, ja der gotteskindschaft selbst, und zwar
hat Euripides die sage keinesweges nur im mythischen gewande erfaſst, er
streift es vielmehr gerade von besonders bedeutsamen zügen ab und enthüllt
die reine religiöse empfindung. von diesem augenpunkte betrachtet erheben
sich jene herrlichen lieder erst zu organischen bestandteilen des dramas,
und erscheint die blödsichtigkeit moderner beurteiler in ihrer ganzen
erbärmlichkeit, welche sie für locker mit dem drama verbunden halten
können. aber Euripides hat das ideal der dorischen ἀρετά nicht mehr
52) Es sei daran erinnert, daſs die groſse malerei der polygnotischen zeit eine
solche gruppe dargestellt hatte, welche vielfache nachbildung und umbildung erfuhr.
Benndorf Heroon von Gjöl Baschi 114.
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