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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Aufbau des dramas.
und Alkestis aufgeführt hatte. aber man würde keiner zeugnisse bedürfen
um zu erkennen, dass Lyssa bereits eine wolbekannte bühnenfigur war,
ehe sie Euripides hier einführte. denn er hat sie ihrem eigenen wesen
entfremdet. sie warnt vor dem frevel, beurteilt also ihre natur selbst als
etwas gleichsam ausser ihr. damit ist die personification des wahnsinns
innerlich aufgehoben. und das war nur möglich, wenn die phantasie
sich so stark daran gewöhnt hatte den wahnsinn, weil er dämonisch
wirkt, in der gestalt eines dämons zu sehen, dass dieser dämon eine
persönlichkeit auch abgesehen von der sphäre seines wirkens scheinen
konnte. auf diesem wege sind freilich sehr viele göttliche gestalten zu
umfassender, wol gar zu universaler potenz gekommen; ist doch der gottes-
begriff selbst zunächst nur ein prädicatsbegriff und hat sich allmählich
nicht nur zu einem subject erhoben, sondern das, wovon er die göttlich-
keit prädicirte, zu seinen prädicaten gemacht. aber so lange eine personi-
fication ganz durchsichtig ist, verstösst eine solche erhebung in das uni-
verselle wider den natürlichen sinn, wider die logik und die religion.
ein Lussa sophronousa ist eine contradictio in adjecto und eine blas-
phemie so gut wie die frivolität Heras und die verworfenheit der Iris.
für Euripides ist beides gleich bezeichnend: ihm sind alle göttlichen
figuren ja doch nur conventionelle fictionen einer religion, die seinen
vorstellungen vom wesen der gottheit widerspricht. wenn er den volks-
glauben, indem er ihm folgt, ad absurdum führt, so ist es ihm ganz
genehm.

Erst mit dem momente, wo Lyssa sie selbst wird, der dichter also
in die bahnen der echt mythischen vorstellungen zurücklenkt, hebt sich
auch sein gedicht wieder zu der höhe einer reinen wirkung. er hat
hier eine seiner höchsten leistungen erreicht; aber es liegt nur zum teil
an äusserlichkeiten, wenn diese partie so wenig anerkennung bei den
modernen gefunden hat. allerdings war die überlieferung bis vor kurzem
unvollkommen bekannt, so dass die scenische anlage des grossen chor-
liedes ganz verkannt war; auch musste eine sprache, welche sowol den
wahnsinn als dämon wie die dämonische erschütterung der betroffenen,
eine sprache, welche also das wunder sinnfällig zum ausdruck bringen

diese stelle aufmerksam ward, weil Servius, oder vielmehr Asper zu Aen. 7, 337
bemerkt, bei Euripides sage die Furie se non unius esse potestatis, sed se fortunam,
se nemesin, se fatum, se esse necessitatem
(fgm. 1011). das war etwa ou gar pephuka
dunameos kratein mias; all eimi nemesis kai tukhe kai moir ego, ego d anagke.
eine solche Erinys hat in keiner von Euripides behandelten sage platz ausser der
von Alkmeon.
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Aufbau des dramas.
und Alkestis aufgeführt hatte. aber man würde keiner zeugnisse bedürfen
um zu erkennen, daſs Lyssa bereits eine wolbekannte bühnenfigur war,
ehe sie Euripides hier einführte. denn er hat sie ihrem eigenen wesen
entfremdet. sie warnt vor dem frevel, beurteilt also ihre natur selbst als
etwas gleichsam auſser ihr. damit ist die personification des wahnsinns
innerlich aufgehoben. und das war nur möglich, wenn die phantasie
sich so stark daran gewöhnt hatte den wahnsinn, weil er dämonisch
wirkt, in der gestalt eines dämons zu sehen, daſs dieser dämon eine
persönlichkeit auch abgesehen von der sphäre seines wirkens scheinen
konnte. auf diesem wege sind freilich sehr viele göttliche gestalten zu
umfassender, wol gar zu universaler potenz gekommen; ist doch der gottes-
begriff selbst zunächst nur ein prädicatsbegriff und hat sich allmählich
nicht nur zu einem subject erhoben, sondern das, wovon er die göttlich-
keit prädicirte, zu seinen prädicaten gemacht. aber so lange eine personi-
fication ganz durchsichtig ist, verstöſst eine solche erhebung in das uni-
verselle wider den natürlichen sinn, wider die logik und die religion.
ein Λύσσα σωφρονοῦσα ist eine contradictio in adjecto und eine blas-
phemie so gut wie die frivolität Heras und die verworfenheit der Iris.
für Euripides ist beides gleich bezeichnend: ihm sind alle göttlichen
figuren ja doch nur conventionelle fictionen einer religion, die seinen
vorstellungen vom wesen der gottheit widerspricht. wenn er den volks-
glauben, indem er ihm folgt, ad absurdum führt, so ist es ihm ganz
genehm.

Erst mit dem momente, wo Lyssa sie selbst wird, der dichter also
in die bahnen der echt mythischen vorstellungen zurücklenkt, hebt sich
auch sein gedicht wieder zu der höhe einer reinen wirkung. er hat
hier eine seiner höchsten leistungen erreicht; aber es liegt nur zum teil
an äuſserlichkeiten, wenn diese partie so wenig anerkennung bei den
modernen gefunden hat. allerdings war die überlieferung bis vor kurzem
unvollkommen bekannt, so daſs die scenische anlage des groſsen chor-
liedes ganz verkannt war; auch muſste eine sprache, welche sowol den
wahnsinn als dämon wie die dämonische erschütterung der betroffenen,
eine sprache, welche also das wunder sinnfällig zum ausdruck bringen

diese stelle aufmerksam ward, weil Servius, oder vielmehr Asper zu Aen. 7, 337
bemerkt, bei Euripides sage die Furie se non unius esse potestatis, sed se fortunam,
se nemesin, se fatum, se esse necessitatem
(fgm. 1011). das war etwa οὐ γὰρ πέφυκα
δυνάμεως κρατεῖν μιᾶς· ἀλλ̕ εἰμὶ νέμεσις καὶ τύχη καὶ μοῖρ̕ ἐγὼ, ἐγὼ δ̕ ἀνάγκη.
eine solche Erinys hat in keiner von Euripides behandelten sage platz auſser der
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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 371. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/391>, abgerufen am 22.11.2024.