Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

Bild:
<< vorherige Seite

Der Herakles des Euripides.
leisten lassen, als er ihn an Iolaos stelle setzte, und schon dieses legte
ihm nahe, Megara mit ihren kindern fallen zu lassen. die gattin würde
aber auch die einwirkung von vater und freund gestört, die mutter das
mitleid von dem vater, der zugleich mörder ist, abgezogen haben: so
hat Euripides sie das schicksal ihrer kinder teilen lassen, zum grössten
vorteil für seine dichtung, übrigens auch für die späteren fassungen der
geschichte vielfach massgebend.

Die dritte neuerung ist die einführung des Lykos, welcher die familie
des Herakles mit dem tode bedroht und von diesem dafür erschlagen
wird. Euripides hat diese tat, in welcher sich die familienliebe und die
rettende grösse des Herakles kurz vor dem grässlichen, das die familie
zugleich mit der grösse des helden zerstört, für dessen charakteristik
nötig gehabt und erfunden; Lykos ist selbst nur ein mittel zum zweck.
dass er ihn auch erfunden hat, sagt er so gut wie selbst (26. 31), indem
er ihn als einen enkel des tyrannen Lykos einführt, der nach alter sage
von den söhnen Antiopes, den boeotischen Dioskuren, vertrieben worden
ist. jener Lykos war in der tat eine alte sagenfigur 37), wahrscheinlich
auch in der Antiopesage vertreter Euboias, wie er, zu einem sohne des
Pandion umgeformt, es auch in der attischen ist, oder besser gewesen
ist, denn für uns ist der attische Lykos ganz verblasst. dieselben züge
trägt bei Euripides sein enkel, gegen den als eindringling sich Thebens
greise leidenschaftlich wehren. dass er Megaras vater, könig Kreon, sammt
seinen söhnen erschlagen hat, ist in diesem zusammenhange unerlässlich:
nur so ist die bedrohung und hilflosigkeit der enkel des Kreon und söhne
des Herakles hinreichend begründet. daran dass derselbe Kreon Haimon
und Megareus zu söhnen gehabt hat und den zug der Sieben überlebt,
dürfen wir, trotzdem beide Kreon Menoikeus zum vater haben, nicht
denken: die Herakles- und Oidipussage sind schlechthin incommensurabel,
und Kreon erscheint in beiden nicht als dieselbe individuelle person,
sondern als dieselbe füllfigur, die auch in anderen sagen, z. b. der korin-
thischen, auftritt, wo bloss ein 'könig' nötig ist 38). da der dichter seinen

bruders mit staub zu bewerfen für eine religiöse pflicht hält. unserer sittlichkeit
läuft beides zuwider.
37) Es verdient bedacht zu werden, dass die Antiopesage in den Kyprien dicht
neben dem wahnsinn des Herakles behandelt war. ob Lykos aber in ihnen vorkam,
ist mit unserer kenntnis schwerlich je zu entscheiden.
38) Auch Kreousa ist, wo immer er auftritt, ein füllname. so ganz besonders
in der attischen sage. als Ion, der eigentlich ein euböischer zuwanderer ist, zu einem
Athener umgeformt werden sollte, musste er eine tochter eines attischen urkönigs
zur mutter erhalten. die in der sage berühmten waren vergeben: so ward eine

Der Herakles des Euripides.
leisten lassen, als er ihn an Iolaos stelle setzte, und schon dieses legte
ihm nahe, Megara mit ihren kindern fallen zu lassen. die gattin würde
aber auch die einwirkung von vater und freund gestört, die mutter das
mitleid von dem vater, der zugleich mörder ist, abgezogen haben: so
hat Euripides sie das schicksal ihrer kinder teilen lassen, zum gröſsten
vorteil für seine dichtung, übrigens auch für die späteren fassungen der
geschichte vielfach maſsgebend.

Die dritte neuerung ist die einführung des Lykos, welcher die familie
des Herakles mit dem tode bedroht und von diesem dafür erschlagen
wird. Euripides hat diese tat, in welcher sich die familienliebe und die
rettende gröſse des Herakles kurz vor dem gräſslichen, das die familie
zugleich mit der gröſse des helden zerstört, für dessen charakteristik
nötig gehabt und erfunden; Lykos ist selbst nur ein mittel zum zweck.
daſs er ihn auch erfunden hat, sagt er so gut wie selbst (26. 31), indem
er ihn als einen enkel des tyrannen Lykos einführt, der nach alter sage
von den söhnen Antiopes, den boeotischen Dioskuren, vertrieben worden
ist. jener Lykos war in der tat eine alte sagenfigur 37), wahrscheinlich
auch in der Antiopesage vertreter Euboias, wie er, zu einem sohne des
Pandion umgeformt, es auch in der attischen ist, oder besser gewesen
ist, denn für uns ist der attische Lykos ganz verblaſst. dieselben züge
trägt bei Euripides sein enkel, gegen den als eindringling sich Thebens
greise leidenschaftlich wehren. daſs er Megaras vater, könig Kreon, sammt
seinen söhnen erschlagen hat, ist in diesem zusammenhange unerläſslich:
nur so ist die bedrohung und hilflosigkeit der enkel des Kreon und söhne
des Herakles hinreichend begründet. daran daſs derselbe Kreon Haimon
und Megareus zu söhnen gehabt hat und den zug der Sieben überlebt,
dürfen wir, trotzdem beide Kreon Menoikeus zum vater haben, nicht
denken: die Herakles- und Oidipussage sind schlechthin incommensurabel,
und Kreon erscheint in beiden nicht als dieselbe individuelle person,
sondern als dieselbe füllfigur, die auch in anderen sagen, z. b. der korin-
thischen, auftritt, wo bloſs ein ‘könig’ nötig ist 38). da der dichter seinen

bruders mit staub zu bewerfen für eine religiöse pflicht hält. unserer sittlichkeit
läuft beides zuwider.
37) Es verdient bedacht zu werden, daſs die Antiopesage in den Kyprien dicht
neben dem wahnsinn des Herakles behandelt war. ob Lykos aber in ihnen vorkam,
ist mit unserer kenntnis schwerlich je zu entscheiden.
38) Auch Κρέουσα ist, wo immer er auftritt, ein füllname. so ganz besonders
in der attischen sage. als Ion, der eigentlich ein euböischer zuwanderer ist, zu einem
Athener umgeformt werden sollte, muſste er eine tochter eines attischen urkönigs
zur mutter erhalten. die in der sage berühmten waren vergeben: so ward eine
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0380" n="360"/><fw place="top" type="header">Der Herakles des Euripides.</fw><lb/>
leisten lassen, als er ihn an Iolaos stelle setzte, und schon dieses legte<lb/>
ihm nahe, Megara mit ihren kindern fallen zu lassen. die gattin würde<lb/>
aber auch die einwirkung von vater und freund gestört, die mutter das<lb/>
mitleid von dem vater, der zugleich mörder ist, abgezogen haben: so<lb/>
hat Euripides sie das schicksal ihrer kinder teilen lassen, zum grö&#x017F;sten<lb/>
vorteil für seine dichtung, übrigens auch für die späteren fassungen der<lb/>
geschichte vielfach ma&#x017F;sgebend.</p><lb/>
        <p>Die dritte neuerung ist die einführung des Lykos, welcher die familie<lb/>
des Herakles mit dem tode bedroht und von diesem dafür erschlagen<lb/>
wird. Euripides hat diese tat, in welcher sich die familienliebe und die<lb/>
rettende grö&#x017F;se des Herakles kurz vor dem grä&#x017F;slichen, das die familie<lb/>
zugleich mit der grö&#x017F;se des helden zerstört, für dessen charakteristik<lb/>
nötig gehabt und erfunden; Lykos ist selbst nur ein mittel zum zweck.<lb/>
da&#x017F;s er ihn auch erfunden hat, sagt er so gut wie selbst (26. 31), indem<lb/>
er ihn als einen enkel des tyrannen Lykos einführt, der nach alter sage<lb/>
von den söhnen Antiopes, den boeotischen Dioskuren, vertrieben worden<lb/>
ist. jener Lykos war in der tat eine alte sagenfigur <note place="foot" n="37)">Es verdient bedacht zu werden, da&#x017F;s die Antiopesage in den Kyprien dicht<lb/>
neben dem wahnsinn des Herakles behandelt war. ob Lykos aber in ihnen vorkam,<lb/>
ist mit unserer kenntnis schwerlich je zu entscheiden.</note>, wahrscheinlich<lb/>
auch in der Antiopesage vertreter Euboias, wie er, zu einem sohne des<lb/>
Pandion umgeformt, es auch in der attischen ist, oder besser gewesen<lb/>
ist, denn für uns ist der attische Lykos ganz verbla&#x017F;st. dieselben züge<lb/>
trägt bei Euripides sein enkel, gegen den als eindringling sich Thebens<lb/>
greise leidenschaftlich wehren. da&#x017F;s er Megaras vater, könig Kreon, sammt<lb/>
seinen söhnen erschlagen hat, ist in diesem zusammenhange unerlä&#x017F;slich:<lb/>
nur so ist die bedrohung und hilflosigkeit der enkel des Kreon und söhne<lb/>
des Herakles hinreichend begründet. daran da&#x017F;s derselbe Kreon Haimon<lb/>
und Megareus zu söhnen gehabt hat und den zug der Sieben überlebt,<lb/>
dürfen wir, trotzdem beide Kreon Menoikeus zum vater haben, nicht<lb/>
denken: die Herakles- und Oidipussage sind schlechthin incommensurabel,<lb/>
und Kreon erscheint in beiden nicht als dieselbe individuelle person,<lb/>
sondern als dieselbe füllfigur, die auch in anderen sagen, z. b. der korin-<lb/>
thischen, auftritt, wo blo&#x017F;s ein &#x2018;könig&#x2019; nötig ist <note xml:id="note-0380a" next="#note-0381" place="foot" n="38)">Auch &#x039A;&#x03C1;&#x03AD;&#x03BF;&#x03C5;&#x03C3;&#x03B1; ist, wo immer er auftritt, ein füllname. so ganz besonders<lb/>
in der attischen sage. als Ion, der eigentlich ein euböischer zuwanderer ist, zu einem<lb/>
Athener umgeformt werden sollte, mu&#x017F;ste er eine tochter eines attischen urkönigs<lb/>
zur mutter erhalten. die in der sage berühmten waren vergeben: so ward eine</note>. da der dichter seinen<lb/><note xml:id="note-0380" prev="#note-0379a" place="foot" n="36)">bruders mit staub zu bewerfen für eine religiöse pflicht hält. unserer sittlichkeit<lb/>
läuft beides zuwider.</note><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[360/0380] Der Herakles des Euripides. leisten lassen, als er ihn an Iolaos stelle setzte, und schon dieses legte ihm nahe, Megara mit ihren kindern fallen zu lassen. die gattin würde aber auch die einwirkung von vater und freund gestört, die mutter das mitleid von dem vater, der zugleich mörder ist, abgezogen haben: so hat Euripides sie das schicksal ihrer kinder teilen lassen, zum gröſsten vorteil für seine dichtung, übrigens auch für die späteren fassungen der geschichte vielfach maſsgebend. Die dritte neuerung ist die einführung des Lykos, welcher die familie des Herakles mit dem tode bedroht und von diesem dafür erschlagen wird. Euripides hat diese tat, in welcher sich die familienliebe und die rettende gröſse des Herakles kurz vor dem gräſslichen, das die familie zugleich mit der gröſse des helden zerstört, für dessen charakteristik nötig gehabt und erfunden; Lykos ist selbst nur ein mittel zum zweck. daſs er ihn auch erfunden hat, sagt er so gut wie selbst (26. 31), indem er ihn als einen enkel des tyrannen Lykos einführt, der nach alter sage von den söhnen Antiopes, den boeotischen Dioskuren, vertrieben worden ist. jener Lykos war in der tat eine alte sagenfigur 37), wahrscheinlich auch in der Antiopesage vertreter Euboias, wie er, zu einem sohne des Pandion umgeformt, es auch in der attischen ist, oder besser gewesen ist, denn für uns ist der attische Lykos ganz verblaſst. dieselben züge trägt bei Euripides sein enkel, gegen den als eindringling sich Thebens greise leidenschaftlich wehren. daſs er Megaras vater, könig Kreon, sammt seinen söhnen erschlagen hat, ist in diesem zusammenhange unerläſslich: nur so ist die bedrohung und hilflosigkeit der enkel des Kreon und söhne des Herakles hinreichend begründet. daran daſs derselbe Kreon Haimon und Megareus zu söhnen gehabt hat und den zug der Sieben überlebt, dürfen wir, trotzdem beide Kreon Menoikeus zum vater haben, nicht denken: die Herakles- und Oidipussage sind schlechthin incommensurabel, und Kreon erscheint in beiden nicht als dieselbe individuelle person, sondern als dieselbe füllfigur, die auch in anderen sagen, z. b. der korin- thischen, auftritt, wo bloſs ein ‘könig’ nötig ist 38). da der dichter seinen 36) 37) Es verdient bedacht zu werden, daſs die Antiopesage in den Kyprien dicht neben dem wahnsinn des Herakles behandelt war. ob Lykos aber in ihnen vorkam, ist mit unserer kenntnis schwerlich je zu entscheiden. 38) Auch Κρέουσα ist, wo immer er auftritt, ein füllname. so ganz besonders in der attischen sage. als Ion, der eigentlich ein euböischer zuwanderer ist, zu einem Athener umgeformt werden sollte, muſste er eine tochter eines attischen urkönigs zur mutter erhalten. die in der sage berühmten waren vergeben: so ward eine 36) bruders mit staub zu bewerfen für eine religiöse pflicht hält. unserer sittlichkeit läuft beides zuwider.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/380
Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 360. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/380>, abgerufen am 02.05.2024.