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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Äussere form. gestaltung des stoffes.
xandros und Antiope waren ähnlich gebaut 27). die gestaltung der cha-
raktere lässt sich mit anderen dramen nicht vergleichen 28); Herakles
war überhaupt in der tragödie noch nicht ernsthaft genommen worden,
und die anderen figuren sind nur in relation zu ihm gestaltet. und auch
die darstellung einer wol öfter ähnlich eingeführten situation, wie die
bedrohung der auf einen altar geflüchteten familie des Herakles, oder die
behandlung des sittlichen problems der freundestreue lässt sich wenigstens
fruchtbar nicht mit anderen dramen vergleichen 29). was Euripides im
Herakles gibt, ist aus sich verständlich, ist eben so eigenartig wie treff-
lich: es ist der ganze Euripides darin, aber nicht der jüngling oder
der greis.

Aber diese eigene art des dramas müssen wir zu erfassen suchen,
ganz abgesehen von den chronologischen schlüssen, die sich etwa daraus
ergeben könnten. denn wir möchten ja die zeit wissen lediglich um das
drama und den dichter besser zu verstehen: das datum eines werkes zu
ermitteln ist für die forschung wahrlich nicht selbstzweck. vielleicht
aber wird sich am schlusse dieser betrachtung doch noch eine folgerung
auch für die abfassungszeit ziehen lassen.

Das vorige capitel hat gezeigt, wie gering die bedeutung des kinder-Gestaltung
des stoffes.

mordes in der Heraklessage ist, und dass er sogar in offenen widerspruch
zu dem sinne dieser sage tritt, sobald er in den vordergrund gerückt
wird. gerade dieser widerspruch hat Euripides gereizt; ihn wollte er
offenkundig machen und in seiner weise lösen. dafür war vorbedingung,
dass die tatsache dem volke ganz allgemein als eine unbestrittene fest-
stand: Herakles hat im wahnsinne seine kinder getötet. und da das
volk eine solche geschichte sich nicht als naktes factum erzählt, sondern

götter bemerken, wozu für Hippolytos besonderer anlass war (86). die dichter haben
eben schon die empfindung, es müsse für göttererscheinungen ein conventionelles
scenisches mittel der darstellung erfunden werden: dem bedürfnis hilft das theologeion
ab. die abfassungszeit von Hippolytos Aias Andromache bestätigt sich so in sehr
erfreulicher weise.
27) In beiden trat zwar ein nebenchor auf: aber ein solcher kann die einführung
eines neuen motives nicht markiren, da er ja den anderen chor nicht ablöst.
28) Das ist sonst sehr wol möglich. z. b. sind die Troerinnen erst recht ver-
ständlich, wenn man weiss, dass Andromache und Hekabe voraus liegen, letztere
wieder setzt Sophokles Polyxene voraus; die Iokaste in Euripides Oidipus und dann
in den Phoenissen ist mit hinblick auf die des Sophokles gestaltet, von den Atreiden-
fabeln zu schweigen.
29) Man überlege z. b. wie das motiv des jungfrauenopfers in Herakleiden
Hekabe Erechtheus Iphigeneia Aul. immer mehr ausgearbeitet ist; daneben episodisch
auf den Menoikeus der Phoenissen übertragen.
23*

Äuſsere form. gestaltung des stoffes.
xandros und Antiope waren ähnlich gebaut 27). die gestaltung der cha-
raktere läſst sich mit anderen dramen nicht vergleichen 28); Herakles
war überhaupt in der tragödie noch nicht ernsthaft genommen worden,
und die anderen figuren sind nur in relation zu ihm gestaltet. und auch
die darstellung einer wol öfter ähnlich eingeführten situation, wie die
bedrohung der auf einen altar geflüchteten familie des Herakles, oder die
behandlung des sittlichen problems der freundestreue läſst sich wenigstens
fruchtbar nicht mit anderen dramen vergleichen 29). was Euripides im
Herakles gibt, ist aus sich verständlich, ist eben so eigenartig wie treff-
lich: es ist der ganze Euripides darin, aber nicht der jüngling oder
der greis.

Aber diese eigene art des dramas müssen wir zu erfassen suchen,
ganz abgesehen von den chronologischen schlüssen, die sich etwa daraus
ergeben könnten. denn wir möchten ja die zeit wissen lediglich um das
drama und den dichter besser zu verstehen: das datum eines werkes zu
ermitteln ist für die forschung wahrlich nicht selbstzweck. vielleicht
aber wird sich am schlusse dieser betrachtung doch noch eine folgerung
auch für die abfassungszeit ziehen lassen.

Das vorige capitel hat gezeigt, wie gering die bedeutung des kinder-Gestaltung
des stoffes.

mordes in der Heraklessage ist, und daſs er sogar in offenen widerspruch
zu dem sinne dieser sage tritt, sobald er in den vordergrund gerückt
wird. gerade dieser widerspruch hat Euripides gereizt; ihn wollte er
offenkundig machen und in seiner weise lösen. dafür war vorbedingung,
daſs die tatsache dem volke ganz allgemein als eine unbestrittene fest-
stand: Herakles hat im wahnsinne seine kinder getötet. und da das
volk eine solche geschichte sich nicht als naktes factum erzählt, sondern

götter bemerken, wozu für Hippolytos besonderer anlaſs war (86). die dichter haben
eben schon die empfindung, es müsse für göttererscheinungen ein conventionelles
scenisches mittel der darstellung erfunden werden: dem bedürfnis hilft das ϑεολογεῖον
ab. die abfassungszeit von Hippolytos Aias Andromache bestätigt sich so in sehr
erfreulicher weise.
27) In beiden trat zwar ein nebenchor auf: aber ein solcher kann die einführung
eines neuen motives nicht markiren, da er ja den anderen chor nicht ablöst.
28) Das ist sonst sehr wol möglich. z. b. sind die Troerinnen erst recht ver-
ständlich, wenn man weiſs, daſs Andromache und Hekabe voraus liegen, letztere
wieder setzt Sophokles Polyxene voraus; die Iokaste in Euripides Oidipus und dann
in den Phoenissen ist mit hinblick auf die des Sophokles gestaltet, von den Atreiden-
fabeln zu schweigen.
29) Man überlege z. b. wie das motiv des jungfrauenopfers in Herakleiden
Hekabe Erechtheus Iphigeneia Aul. immer mehr ausgearbeitet ist; daneben episodisch
auf den Menoikeus der Phoenissen übertragen.
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[355/0375] Äuſsere form. gestaltung des stoffes. xandros und Antiope waren ähnlich gebaut 27). die gestaltung der cha- raktere läſst sich mit anderen dramen nicht vergleichen 28); Herakles war überhaupt in der tragödie noch nicht ernsthaft genommen worden, und die anderen figuren sind nur in relation zu ihm gestaltet. und auch die darstellung einer wol öfter ähnlich eingeführten situation, wie die bedrohung der auf einen altar geflüchteten familie des Herakles, oder die behandlung des sittlichen problems der freundestreue läſst sich wenigstens fruchtbar nicht mit anderen dramen vergleichen 29). was Euripides im Herakles gibt, ist aus sich verständlich, ist eben so eigenartig wie treff- lich: es ist der ganze Euripides darin, aber nicht der jüngling oder der greis. Aber diese eigene art des dramas müssen wir zu erfassen suchen, ganz abgesehen von den chronologischen schlüssen, die sich etwa daraus ergeben könnten. denn wir möchten ja die zeit wissen lediglich um das drama und den dichter besser zu verstehen: das datum eines werkes zu ermitteln ist für die forschung wahrlich nicht selbstzweck. vielleicht aber wird sich am schlusse dieser betrachtung doch noch eine folgerung auch für die abfassungszeit ziehen lassen. Das vorige capitel hat gezeigt, wie gering die bedeutung des kinder- mordes in der Heraklessage ist, und daſs er sogar in offenen widerspruch zu dem sinne dieser sage tritt, sobald er in den vordergrund gerückt wird. gerade dieser widerspruch hat Euripides gereizt; ihn wollte er offenkundig machen und in seiner weise lösen. dafür war vorbedingung, daſs die tatsache dem volke ganz allgemein als eine unbestrittene fest- stand: Herakles hat im wahnsinne seine kinder getötet. und da das volk eine solche geschichte sich nicht als naktes factum erzählt, sondern 26) Gestaltung des stoffes. 27) In beiden trat zwar ein nebenchor auf: aber ein solcher kann die einführung eines neuen motives nicht markiren, da er ja den anderen chor nicht ablöst. 28) Das ist sonst sehr wol möglich. z. b. sind die Troerinnen erst recht ver- ständlich, wenn man weiſs, daſs Andromache und Hekabe voraus liegen, letztere wieder setzt Sophokles Polyxene voraus; die Iokaste in Euripides Oidipus und dann in den Phoenissen ist mit hinblick auf die des Sophokles gestaltet, von den Atreiden- fabeln zu schweigen. 29) Man überlege z. b. wie das motiv des jungfrauenopfers in Herakleiden Hekabe Erechtheus Iphigeneia Aul. immer mehr ausgearbeitet ist; daneben episodisch auf den Menoikeus der Phoenissen übertragen. 26) götter bemerken, wozu für Hippolytos besonderer anlaſs war (86). die dichter haben eben schon die empfindung, es müsse für göttererscheinungen ein conventionelles scenisches mittel der darstellung erfunden werden: dem bedürfnis hilft das ϑεολογεῖον ab. die abfassungszeit von Hippolytos Aias Andromache bestätigt sich so in sehr erfreulicher weise. 23*

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 355. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/375>, abgerufen am 25.11.2024.