Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.Der Herakles der sage. denn so weit war Antisthenes Sokratiker, dass er die arete in derphronesis sah und für lehrbar erklärte: aber sie war nicht schwer, und wol dem, der nicht erst die ganze last der torheit und der vorurteile zu verlernen hatte. so war Herakles auch hier wieder der rechte mann, der vollkommene mensch. aber er hatte seinen lohn in diesem leben; ge- nauer genommen, eine belohnung gab es nicht und brauchte er auch nicht. er war mensch, poneros und eudaimon zugleich, er mochte menschlich fehlen, auch schliesslich krank werden und aussätzig: dann baute er sich einen scheiterhaufen und warf das wertlose leben weg 127). so vermochte der Kyniker die ganze Heraklesgeschichte seiner lehre dienstbar zu machen. diese lehre stand mit ihrer schätzung von diesseits und jenseits, menschenwürde und menschenpflicht zu der Heraklesreligion in fast polarem gegensatze: aber die typische bedeutung für das sittliche verhalten des mannes hat die gestalt des Herakles in ihr bewahrt, und so ist sie, wenn man alles recht erwägt, am letzten ende auch eine manifestation der volks- tümlichen religion: deren stärke und schwäche darin liegt, dass sie in die alten schläuche immer neuen wein aufnehmen kann. Als heros der Kyniker, als streiter für die civilisation, als allsieger 127) Kurz und scharf findet man diesen kynischen Herakles bei Dion in der
achten rede: man muss sich nur hüten, bei diesem schriftsteller zu grosse stücke auf eins der alten bücher des 4. jahrhunderts zurückführen zu wollen. wie sollte er den Antisthenes anders behandelt haben als Platon und Xenophon, wo die ver- gleichung gestattet ist? der sophist Prometheus (33) dürfte freilich von ihm stammen. und auch der besondere hohn, der die goldenen äpfel trifft, die auch hier am ende des lebens stehen, passt für einen, dem ihre besondere bedeutung noch geläufig sein konnte: Her. nimmt sie nicht selbst, er kann ja gold so wenig wie die Hesperiden essen. als er dann alt und schwach wird, baut er sich auf dem hofe den scheiterhaufen. hier ist die kritik der byzantinischen und modernen herausgeber possirlich. weil sie wissen, wo die sage den selbstmord ansetzt, machen sie aus dem hofe den Oeta (Oite für aule 34), wo man kynisch weiter fragen muss, wozu die bergbesteigung, das konnte er doch wahrhaftig zu hause haben. von den Heraklestragödien der Kyniker ist adespot. 305 merkwürdig, von Cassius Dio (47, 49) als to Erakleion angeführt, der vers, den Brutus wiederholte, als er sich bei Philippi den tod gab o tlemon arete, logos ar' esth', ego de se os ergon eskoun, su d' ar' edouleusas tukhe. so redet also eben der Herakles, der sich am scheidewege für die arete entschieden hatte: der dichter setzt Prodikos, oder vielmehr Xenophon voraus, und das douleuein tukhe nimmt er aus der letzten rede des euripideischen Herakles (1357). dieser Herakles war also nicht mehr der rechte Kyniker, sonst würde er die tukhe verachten -- auch das antisthenische ideal war gewogen und zu leicht befunden. alles führt darauf, Diogenes oder Pseudodiogenes als verfasser anzuerkennen. Der Herakles der sage. denn so weit war Antisthenes Sokratiker, daſs er die ἀρετή in derφρόνησις sah und für lehrbar erklärte: aber sie war nicht schwer, und wol dem, der nicht erst die ganze last der torheit und der vorurteile zu verlernen hatte. so war Herakles auch hier wieder der rechte mann, der vollkommene mensch. aber er hatte seinen lohn in diesem leben; ge- nauer genommen, eine belohnung gab es nicht und brauchte er auch nicht. er war mensch, πονηρός und εὐδαίμων zugleich, er mochte menschlich fehlen, auch schlieſslich krank werden und aussätzig: dann baute er sich einen scheiterhaufen und warf das wertlose leben weg 127). so vermochte der Kyniker die ganze Heraklesgeschichte seiner lehre dienstbar zu machen. diese lehre stand mit ihrer schätzung von diesseits und jenseits, menschenwürde und menschenpflicht zu der Heraklesreligion in fast polarem gegensatze: aber die typische bedeutung für das sittliche verhalten des mannes hat die gestalt des Herakles in ihr bewahrt, und so ist sie, wenn man alles recht erwägt, am letzten ende auch eine manifestation der volks- tümlichen religion: deren stärke und schwäche darin liegt, daſs sie in die alten schläuche immer neuen wein aufnehmen kann. Als heros der Kyniker, als streiter für die civilisation, als allsieger 127) Kurz und scharf findet man diesen kynischen Herakles bei Dion in der
achten rede: man muſs sich nur hüten, bei diesem schriftsteller zu groſse stücke auf eins der alten bücher des 4. jahrhunderts zurückführen zu wollen. wie sollte er den Antisthenes anders behandelt haben als Platon und Xenophon, wo die ver- gleichung gestattet ist? der sophist Prometheus (33) dürfte freilich von ihm stammen. und auch der besondere hohn, der die goldenen äpfel trifft, die auch hier am ende des lebens stehen, paſst für einen, dem ihre besondere bedeutung noch geläufig sein konnte: Her. nimmt sie nicht selbst, er kann ja gold so wenig wie die Hesperiden essen. als er dann alt und schwach wird, baut er sich auf dem hofe den scheiterhaufen. hier ist die kritik der byzantinischen und modernen herausgeber possirlich. weil sie wissen, wo die sage den selbstmord ansetzt, machen sie aus dem hofe den Oeta (Οἴτῃ für αὐλῇ 34), wo man kynisch weiter fragen muſs, wozu die bergbesteigung, das konnte er doch wahrhaftig zu hause haben. von den Heraklestragödien der Kyniker ist adespot. 305 merkwürdig, von Cassius Dio (47, 49) als τὸ Ἡράκλειον angeführt, der vers, den Brutus wiederholte, als er sich bei Philippi den tod gab ὦ τλῆμον ἀρετή, λόγος ἄρ᾽ ἧσϑ᾽, ἐγὼ δέ σε ὡς ἔργον ἤσκουν, σὺ δ᾽ ἄρ᾽ ἐδούλευσας τύχῃ. so redet also eben der Herakles, der sich am scheidewege für die ἀρετή entschieden hatte: der dichter setzt Prodikos, oder vielmehr Xenophon voraus, und das δουλεύειν τύχῃ nimmt er aus der letzten rede des euripideischen Herakles (1357). dieser Herakles war also nicht mehr der rechte Kyniker, sonst würde er die τύχη verachten — auch das antisthenische ideal war gewogen und zu leicht befunden. alles führt darauf, Diogenes oder Pseudodiogenes als verfasser anzuerkennen. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0356" n="336"/><fw place="top" type="header">Der Herakles der sage.</fw><lb/> denn so weit war Antisthenes Sokratiker, daſs er die ἀρετή in der<lb/> φρόνησις sah und für lehrbar erklärte: aber sie war nicht schwer, und<lb/> wol dem, der nicht erst die ganze last der torheit und der vorurteile zu<lb/> verlernen hatte. so war Herakles auch hier wieder der rechte mann, der<lb/> vollkommene mensch. aber er hatte seinen lohn in diesem leben; ge-<lb/> nauer genommen, eine belohnung gab es nicht und brauchte er auch<lb/> nicht. er war mensch, πονηρός und εὐδαίμων zugleich, er mochte<lb/> menschlich fehlen, auch schlieſslich krank werden und aussätzig: dann<lb/> baute er sich einen scheiterhaufen und warf das wertlose leben weg <note place="foot" n="127)">Kurz und scharf findet man diesen kynischen Herakles bei Dion in der<lb/> achten rede: man muſs sich nur hüten, bei diesem schriftsteller zu groſse stücke<lb/> auf eins der alten bücher des 4. jahrhunderts zurückführen zu wollen. wie sollte<lb/> er den Antisthenes anders behandelt haben als Platon und Xenophon, wo die ver-<lb/> gleichung gestattet ist? 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Der Herakles der sage.
denn so weit war Antisthenes Sokratiker, daſs er die ἀρετή in der
φρόνησις sah und für lehrbar erklärte: aber sie war nicht schwer, und
wol dem, der nicht erst die ganze last der torheit und der vorurteile zu
verlernen hatte. so war Herakles auch hier wieder der rechte mann, der
vollkommene mensch. aber er hatte seinen lohn in diesem leben; ge-
nauer genommen, eine belohnung gab es nicht und brauchte er auch
nicht. er war mensch, πονηρός und εὐδαίμων zugleich, er mochte
menschlich fehlen, auch schlieſslich krank werden und aussätzig: dann
baute er sich einen scheiterhaufen und warf das wertlose leben weg 127). so
vermochte der Kyniker die ganze Heraklesgeschichte seiner lehre dienstbar
zu machen. diese lehre stand mit ihrer schätzung von diesseits und jenseits,
menschenwürde und menschenpflicht zu der Heraklesreligion in fast polarem
gegensatze: aber die typische bedeutung für das sittliche verhalten des
mannes hat die gestalt des Herakles in ihr bewahrt, und so ist sie, wenn
man alles recht erwägt, am letzten ende auch eine manifestation der volks-
tümlichen religion: deren stärke und schwäche darin liegt, daſs sie in die
alten schläuche immer neuen wein aufnehmen kann.
Als heros der Kyniker, als streiter für die civilisation, als allsieger
in den kämpfen der faust und der keule, aber nur zu leicht dem weine
und der liebe erliegend hat Herakles durch die jahrhunderte fortgelebt,
127) Kurz und scharf findet man diesen kynischen Herakles bei Dion in der
achten rede: man muſs sich nur hüten, bei diesem schriftsteller zu groſse stücke
auf eins der alten bücher des 4. jahrhunderts zurückführen zu wollen. wie sollte
er den Antisthenes anders behandelt haben als Platon und Xenophon, wo die ver-
gleichung gestattet ist? der sophist Prometheus (33) dürfte freilich von ihm stammen.
und auch der besondere hohn, der die goldenen äpfel trifft, die auch hier am ende des
lebens stehen, paſst für einen, dem ihre besondere bedeutung noch geläufig sein
konnte: Her. nimmt sie nicht selbst, er kann ja gold so wenig wie die Hesperiden essen.
als er dann alt und schwach wird, baut er sich auf dem hofe den scheiterhaufen. hier
ist die kritik der byzantinischen und modernen herausgeber possirlich. weil sie wissen,
wo die sage den selbstmord ansetzt, machen sie aus dem hofe den Oeta (Οἴτῃ
für αὐλῇ 34), wo man kynisch weiter fragen muſs, wozu die bergbesteigung, das
konnte er doch wahrhaftig zu hause haben. von den Heraklestragödien der Kyniker
ist adespot. 305 merkwürdig, von Cassius Dio (47, 49) als τὸ Ἡράκλειον angeführt,
der vers, den Brutus wiederholte, als er sich bei Philippi den tod gab ὦ τλῆμον
ἀρετή, λόγος ἄρ᾽ ἧσϑ᾽, ἐγὼ δέ σε ὡς ἔργον ἤσκουν, σὺ δ᾽ ἄρ᾽ ἐδούλευσας τύχῃ. so
redet also eben der Herakles, der sich am scheidewege für die ἀρετή entschieden hatte:
der dichter setzt Prodikos, oder vielmehr Xenophon voraus, und das δουλεύειν τύχῃ
nimmt er aus der letzten rede des euripideischen Herakles (1357). dieser Herakles war
also nicht mehr der rechte Kyniker, sonst würde er die τύχη verachten — auch das
antisthenische ideal war gewogen und zu leicht befunden. alles führt darauf, Diogenes
oder Pseudodiogenes als verfasser anzuerkennen.
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