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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Der Herakles der sage.
ward die zweite dazumal vielleicht noch peinlichere frage beantwortet.
die tat zu begründen lag dem Thebaner nahe genug. der hass der Hera
war gerade ihm in Heraklessagen geläufig, und dass sie wahnsinn sendet,
gerade solchen der zum kindermorde führte, wusste er auch. so war es
ja dem Athamas und der Ino, so war es Agaue ergangen. die tat ent-
ehrte den Herakles nicht, weil ihm das bewusstsein fehlte, und der wahn-
sinn tat es auch nicht; dem war ja selbst Dionysos durch Heras groll ver-
fallen. es ist also ganz verständlich, dass die Thebaner so sich das problem
gelöst haben, welches durch die allmählich eintretende verbindung der
örtlich gesonderten sagenkreise mit notwendigkeit entstand. wenn in
Theben neben dem tempel des gottes Herakles sein geburtshaus und
daneben das mal gezeigt ward, welches seine kinder, gleichviel wie viele,
gleichviel wie, aber von ihm selbst getötete, deckte, so ward dem beschauer
recht sinnfällig, dass Herakles als mensch seiner heimat nur für eine kurze
zeit hatte angehören können, dass ihm Heras eifersucht die heimat und
ihn der heimat entzogen hatte: dem himmel aber hatte sie ihn nicht
entziehen können.

So betrachtet hört der kindermord auf, an Herakles unbegreiflich
zu sein, weil er in wirklichkeit ihn gar nichts angeht. es ist eine ge-
schichte, welche ihrem wesen nach nichts ist als ein erzeugnis der com-
binirenden reflexion 115 b), ein bindeglied für zwei sagenkreise. in jedem
von diesen steckt der echte Herakles: dessen heldenbild wird von keinem
schatten einer schaudervollen freveltat getrübt, wie denn das wesen des
himmlischen helfers eigentlich den gedanken an solche untat nicht erträgt.
so ist denn auch der kindermord keinesweges in echt dorischen landen
volkstümlich. auch die bildende kunst stellt ihn nicht dar: Assteas ist
eine singularität. der thebanische cultus symbolisirt nichts weiter als die

115 b) Dass Alkathoos einen sohn Kallipolis erschlägt, weil er ihm beim opfer
den tod seines älteren bruders Iskhepolis meldet (Pausan. I 42, 6), hat mit der tat
des Herakles keine ähnlichkeit, geschweige dass es eine dublette des kindermordes
wäre. Alkathoos handelt so in ausübung seiner väterlichen gewalt, weil er die hand-
lung des sohnes für oukh osion hält, er handelt formell gerecht, macht sich freilich
selbst durch seine strenge kinderlos. das ist eine novelle angesetzt an ein monument,
dessen wirkliche bedeutung man nicht mehr verstand. offenbar ist in der periegese
des Pausanias neben dem, was auf die chronik des Dieuchidas zurückgeht, ein element,
das die reste der stadt, die nach den katastrophen von 306 und 264 übrig waren,
ohne wirkliche kenntnis zu deuten sucht. so ist das aisimnion offenbar das alte
sitzungshaus der aisimnatai, aber jetzt fabelt man, es wäre ein grab eines Aisimnos,
und Iphinoe, der die mädchen ihr har vor der hochzeit weihen, ist offenbar ehedem
eine nebenform der Iphigone gewesen, keine königstochter, u. s. w.

Der Herakles der sage.
ward die zweite dazumal vielleicht noch peinlichere frage beantwortet.
die tat zu begründen lag dem Thebaner nahe genug. der haſs der Hera
war gerade ihm in Heraklessagen geläufig, und daſs sie wahnsinn sendet,
gerade solchen der zum kindermorde führte, wuſste er auch. so war es
ja dem Athamas und der Ino, so war es Agaue ergangen. die tat ent-
ehrte den Herakles nicht, weil ihm das bewuſstsein fehlte, und der wahn-
sinn tat es auch nicht; dem war ja selbst Dionysos durch Heras groll ver-
fallen. es ist also ganz verständlich, daſs die Thebaner so sich das problem
gelöst haben, welches durch die allmählich eintretende verbindung der
örtlich gesonderten sagenkreise mit notwendigkeit entstand. wenn in
Theben neben dem tempel des gottes Herakles sein geburtshaus und
daneben das mal gezeigt ward, welches seine kinder, gleichviel wie viele,
gleichviel wie, aber von ihm selbst getötete, deckte, so ward dem beschauer
recht sinnfällig, daſs Herakles als mensch seiner heimat nur für eine kurze
zeit hatte angehören können, daſs ihm Heras eifersucht die heimat und
ihn der heimat entzogen hatte: dem himmel aber hatte sie ihn nicht
entziehen können.

So betrachtet hört der kindermord auf, an Herakles unbegreiflich
zu sein, weil er in wirklichkeit ihn gar nichts angeht. es ist eine ge-
schichte, welche ihrem wesen nach nichts ist als ein erzeugnis der com-
binirenden reflexion 115 b), ein bindeglied für zwei sagenkreise. in jedem
von diesen steckt der echte Herakles: dessen heldenbild wird von keinem
schatten einer schaudervollen freveltat getrübt, wie denn das wesen des
himmlischen helfers eigentlich den gedanken an solche untat nicht erträgt.
so ist denn auch der kindermord keinesweges in echt dorischen landen
volkstümlich. auch die bildende kunst stellt ihn nicht dar: Assteas ist
eine singularität. der thebanische cultus symbolisirt nichts weiter als die

115 b) Daſs Alkathoos einen sohn Καλλίπολις erschlägt, weil er ihm beim opfer
den tod seines älteren bruders Ἰσχέπολις meldet (Pausan. I 42, 6), hat mit der tat
des Herakles keine ähnlichkeit, geschweige daſs es eine dublette des kindermordes
wäre. Alkathoos handelt so in ausübung seiner väterlichen gewalt, weil er die hand-
lung des sohnes für οὐχ ὅσιον hält, er handelt formell gerecht, macht sich freilich
selbst durch seine strenge kinderlos. das ist eine novelle angesetzt an ein monument,
dessen wirkliche bedeutung man nicht mehr verstand. offenbar ist in der periegese
des Pausanias neben dem, was auf die chronik des Dieuchidas zurückgeht, ein element,
das die reste der stadt, die nach den katastrophen von 306 und 264 übrig waren,
ohne wirkliche kenntnis zu deuten sucht. so ist das αἰσίμνιον offenbar das alte
sitzungshaus der αἰσιμνᾶται, aber jetzt fabelt man, es wäre ein grab eines Αἴσιμνος,
und Ἰφινόη, der die mädchen ihr har vor der hochzeit weihen, ist offenbar ehedem
eine nebenform der Ἰφιγόνη gewesen, keine königstochter, u. s. w.
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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 326. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/346>, abgerufen am 22.11.2024.