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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Der Herakles der sage.
worden. denn wenn in Tegea ein eberzahn als reliquie gezeigt ward,
und Atalantes heldentat die bezwingung eines ebers ist, gerade eines
solchen, den Artemis zur strafe gesandt hat, um die fluren zu verwüsten,
so ist kaum glaublich, dass dieser eber ursprünglich im fernen Kalydon
erjagt war. wir kennen ja doch nicht die originale arkadische geschichte,
und als Skopas den tempel der Athena Alea baute, musste man dort sich
den feststehenden epischen vorstellungen beugen. Herakles hat sich also
hier in eine hellenische geschichte eingedrängt; aber es ist allerdings so
viel von neuem und echtem zugefügt, dass die entlehnung kaum noch be-
deutung hat. ebenso steht es mit der eleischen Kentauromachie. dagegen
sind stier und amazonen zwar keineswegs jüngere erfindungen, da sie
in der bildenden kunst der archaischen zeit genugsam vertreten sind,
aber die attische zeit hat sie mit recht entweder fallen gelassen oder
umgebildet, weil sie einem helden huldigte, der bessere ansprüche als
der Dorer hatte, Theseus von Trozen. das weiss jetzt jeder, dass Theseus
fast alle die taten, durch welche er zum allos Erakles wird, von
diesem geborgt hat. aber der zug nach Kreta und die Amazonomachie
gehören ihm an, der erste, weil er allein mit Minos und Ariadne und
Phaidra und Amphitrite verknüpft ist, und weil in seiner sage der stier
noch die altertümlichere mischgestalt bewahrt hat, die aber auch in einer
gegend, allerdings einer altionischen und für die Theseussage neben Trozen
allein stark einflussreichen, der blossen tiergestalt gewichen ist. denn der
marathonische stier ist nicht eine nachahmung des von Herakles gejagten
Kretischen, sondern beide sind auf den Minotauros zurückzuführen. die
Amazonen dagegen sind in der Theseussage zunächst gegner, die nicht
aufgesucht werden, sondern selbst kommen, weshalb der ort des kampfes
auch Trozen selbst und Athen ist. auch die asiatischen Amazonen über-
fallen die Griechenstädte oder ziehen wider sie vor Ilios. man ist also
verpflichtet, wirklich in diesen traditionen den reflex von angriffen fremder
völker, über deren nation nichts feststeht, auf die küsten des saronischen
meeres zu sehen, weshalb denn auch Amazonengräber bei Megara liegen,
demselben Megara, das Minos so gut wie Athen bezwungen hat. also hat
Theseus in diesen beiden sagen das bessere recht, und es ist wahrlich
nicht wunderbar, dass die Dorer von den ihnen so nahe wohnenden
trozenischen Ioniern solche sagen auf ihren helden übertragen haben.
wohin die altargolische sage die Amazonen verlegte, von denen Herakles
den gürtel für Eurystheus tochter oder für Hera holte 66), ist bisher nicht
ermittelt.

66) Vgl. zu v. 417.

Der Herakles der sage.
worden. denn wenn in Tegea ein eberzahn als reliquie gezeigt ward,
und Atalantes heldentat die bezwingung eines ebers ist, gerade eines
solchen, den Artemis zur strafe gesandt hat, um die fluren zu verwüsten,
so ist kaum glaublich, daſs dieser eber ursprünglich im fernen Kalydon
erjagt war. wir kennen ja doch nicht die originale arkadische geschichte,
und als Skopas den tempel der Athena Alea baute, muſste man dort sich
den feststehenden epischen vorstellungen beugen. Herakles hat sich also
hier in eine hellenische geschichte eingedrängt; aber es ist allerdings so
viel von neuem und echtem zugefügt, daſs die entlehnung kaum noch be-
deutung hat. ebenso steht es mit der eleischen Kentauromachie. dagegen
sind stier und amazonen zwar keineswegs jüngere erfindungen, da sie
in der bildenden kunst der archaischen zeit genugsam vertreten sind,
aber die attische zeit hat sie mit recht entweder fallen gelassen oder
umgebildet, weil sie einem helden huldigte, der bessere ansprüche als
der Dorer hatte, Theseus von Trozen. das weiſs jetzt jeder, daſs Theseus
fast alle die taten, durch welche er zum ἄλλος Ἡρακλῆς wird, von
diesem geborgt hat. aber der zug nach Kreta und die Amazonomachie
gehören ihm an, der erste, weil er allein mit Minos und Ariadne und
Phaidra und Amphitrite verknüpft ist, und weil in seiner sage der stier
noch die altertümlichere mischgestalt bewahrt hat, die aber auch in einer
gegend, allerdings einer altionischen und für die Theseussage neben Trozen
allein stark einfluſsreichen, der bloſsen tiergestalt gewichen ist. denn der
marathonische stier ist nicht eine nachahmung des von Herakles gejagten
Kretischen, sondern beide sind auf den Minotauros zurückzuführen. die
Amazonen dagegen sind in der Theseussage zunächst gegner, die nicht
aufgesucht werden, sondern selbst kommen, weshalb der ort des kampfes
auch Trozen selbst und Athen ist. auch die asiatischen Amazonen über-
fallen die Griechenstädte oder ziehen wider sie vor Ilios. man ist also
verpflichtet, wirklich in diesen traditionen den reflex von angriffen fremder
völker, über deren nation nichts feststeht, auf die küsten des saronischen
meeres zu sehen, weshalb denn auch Amazonengräber bei Megara liegen,
demselben Megara, das Minos so gut wie Athen bezwungen hat. also hat
Theseus in diesen beiden sagen das bessere recht, und es ist wahrlich
nicht wunderbar, daſs die Dorer von den ihnen so nahe wohnenden
trozenischen Ioniern solche sagen auf ihren helden übertragen haben.
wohin die altargolische sage die Amazonen verlegte, von denen Herakles
den gürtel für Eurystheus tochter oder für Hera holte 66), ist bisher nicht
ermittelt.

66) Vgl. zu v. 417.
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[302/0322] Der Herakles der sage. worden. denn wenn in Tegea ein eberzahn als reliquie gezeigt ward, und Atalantes heldentat die bezwingung eines ebers ist, gerade eines solchen, den Artemis zur strafe gesandt hat, um die fluren zu verwüsten, so ist kaum glaublich, daſs dieser eber ursprünglich im fernen Kalydon erjagt war. wir kennen ja doch nicht die originale arkadische geschichte, und als Skopas den tempel der Athena Alea baute, muſste man dort sich den feststehenden epischen vorstellungen beugen. Herakles hat sich also hier in eine hellenische geschichte eingedrängt; aber es ist allerdings so viel von neuem und echtem zugefügt, daſs die entlehnung kaum noch be- deutung hat. ebenso steht es mit der eleischen Kentauromachie. dagegen sind stier und amazonen zwar keineswegs jüngere erfindungen, da sie in der bildenden kunst der archaischen zeit genugsam vertreten sind, aber die attische zeit hat sie mit recht entweder fallen gelassen oder umgebildet, weil sie einem helden huldigte, der bessere ansprüche als der Dorer hatte, Theseus von Trozen. das weiſs jetzt jeder, daſs Theseus fast alle die taten, durch welche er zum ἄλλος Ἡρακλῆς wird, von diesem geborgt hat. aber der zug nach Kreta und die Amazonomachie gehören ihm an, der erste, weil er allein mit Minos und Ariadne und Phaidra und Amphitrite verknüpft ist, und weil in seiner sage der stier noch die altertümlichere mischgestalt bewahrt hat, die aber auch in einer gegend, allerdings einer altionischen und für die Theseussage neben Trozen allein stark einfluſsreichen, der bloſsen tiergestalt gewichen ist. denn der marathonische stier ist nicht eine nachahmung des von Herakles gejagten Kretischen, sondern beide sind auf den Minotauros zurückzuführen. die Amazonen dagegen sind in der Theseussage zunächst gegner, die nicht aufgesucht werden, sondern selbst kommen, weshalb der ort des kampfes auch Trozen selbst und Athen ist. auch die asiatischen Amazonen über- fallen die Griechenstädte oder ziehen wider sie vor Ilios. man ist also verpflichtet, wirklich in diesen traditionen den reflex von angriffen fremder völker, über deren nation nichts feststeht, auf die küsten des saronischen meeres zu sehen, weshalb denn auch Amazonengräber bei Megara liegen, demselben Megara, das Minos so gut wie Athen bezwungen hat. also hat Theseus in diesen beiden sagen das bessere recht, und es ist wahrlich nicht wunderbar, daſs die Dorer von den ihnen so nahe wohnenden trozenischen Ioniern solche sagen auf ihren helden übertragen haben. wohin die altargolische sage die Amazonen verlegte, von denen Herakles den gürtel für Eurystheus tochter oder für Hera holte 66), ist bisher nicht ermittelt. 66) Vgl. zu v. 417.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 302. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/322>, abgerufen am 22.11.2024.