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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Inhalt der ältesten sage.
die überwindung der gegeneis durch den diogenes gehört zum wesen
der sage; aber sie ist in so zahllosen formen historisirt, und hat selbst
in universaler bedeutung sich so früh in zwei wieder vielfach verästelte
zweige gespalten, dass der alte stamm nicht sicher kenntlich ist. einmal
ist der gegner ein einzelner riese, Geryones, Halkyoneus, Kakos, oder
wie der gegner hiess, den die besiedler Kymes aus Boeotien Thessalien
mitnahmen: gemeinsam ist dieser form, dass der riese unzählige herden
besitzt, d. h. ihm werden die schätze der welt abgejagt. in der andern
form ist es eine mehrzahl, Giganten, Kentauren, Dryoper; hier ist eine
umbildung teils unter dem einflusse hellenischer vorstellungen, teils durch
concrete geschichtliche verhältnisse unverkennbar. aber zu grunde liegt
die allgemeine idee, welche vom wesen des Herakles nicht getrennt
werden kann. endlich muss als hauptstück schon der ältesten erzählung
berichtet sein, wie Herakles in die hölle steigt und den tod überwindet;
mag nun der höllenhund selbst der tod gewesen sein oder nur sein
diener. und ebenso gehört die fahrt nach dem göttergarten und die
erwerbung der goldenen äpfel, d. h. der unsterblichkeit zum urbestande;
mit ihr ist auch meist der kampf mit dem meergotte verbunden 42), seit
alters ebenso berühmt wie der löwenkampf. damit ist die göttlichkeit
erworben; wahrscheinlich hat also die sagenform das echte bewahrt, welche
den helden unmittelbar in den himmelssaal führt, und ist jede vorstellung
von seinem tode eine, wenn auch alte, so doch secundäre bildung; ein

thischen gefäss, das er publicirt, und bei Homer. aber Homer beweist für Hellas
gar nichts, sondern für Asien, und es ist vielmehr für die herrschaft des epos ein
neuer beleg, dass die tierkämpfe, welche in ihm verherrlicht sind, auch in gegenden
dargestellt werden, wo sie dem leben fremd sind. wäre dem nicht so, so müssten
die künstler doch die ungleich häufigeren tierkämpfe schildern, welche notorisch in
Hellas den hirten drohten. wo sind die bären? die gab es doch im 'Bärenland'
Arkadien? und gar die wölfe: noch Solon hat um sie auszurotten jagdprämien aus-
gesetzt. und ferner müsste die sage doch wol löwen in Hellas kennen. aber es
gibt nur einen, den des Herakles. ausser ihm kenne ich nur noch den löwen von
Keos: der liegt noch da, in lebenden fels gemeisselt, es war vermutlich eine fels-
kuppe gewesen, in der die volksphantasie einen löwen sah, und der die kunst nach-
geholfen hat. vgl. de Eurip. Heraclid. 8. dieser löwe ist ein wunderwesen, er
scheucht die nymphen selbst: also zu den gewöhnlichen waldbewohnern gehört er
nicht. der nemeische ist aus dem monde gekommen: also gab es auf erden keine
andern im gesichtskreis der Argeier. der lesbische löwe (schol. Theokrit. 13, 6) ist
vielleicht dem keischen verwandt. denn dieser scheucht die Brisai (Breisai), die
nymphen, und dieser name kehrt nur auf Lesbos wieder, wo Bresa liegt und Dio-
nusos Breseus Breiseus zu hause ist.
42) Da auch die sage, in welcher der meergott Acheloos heisst, dem Herakles
das füllhorn gibt, so ist auch ihr inhalt der erwerb der ewigen seligkeit.
19*

Inhalt der ältesten sage.
die überwindung der γηγενεῖς durch den διογενής gehört zum wesen
der sage; aber sie ist in so zahllosen formen historisirt, und hat selbst
in universaler bedeutung sich so früh in zwei wieder vielfach verästelte
zweige gespalten, daſs der alte stamm nicht sicher kenntlich ist. einmal
ist der gegner ein einzelner riese, Geryones, Halkyoneus, Kakos, oder
wie der gegner hieſs, den die besiedler Kymes aus Boeotien Thessalien
mitnahmen: gemeinsam ist dieser form, daſs der riese unzählige herden
besitzt, d. h. ihm werden die schätze der welt abgejagt. in der andern
form ist es eine mehrzahl, Giganten, Kentauren, Dryoper; hier ist eine
umbildung teils unter dem einflusse hellenischer vorstellungen, teils durch
concrete geschichtliche verhältnisse unverkennbar. aber zu grunde liegt
die allgemeine idee, welche vom wesen des Herakles nicht getrennt
werden kann. endlich muſs als hauptstück schon der ältesten erzählung
berichtet sein, wie Herakles in die hölle steigt und den tod überwindet;
mag nun der höllenhund selbst der tod gewesen sein oder nur sein
diener. und ebenso gehört die fahrt nach dem göttergarten und die
erwerbung der goldenen äpfel, d. h. der unsterblichkeit zum urbestande;
mit ihr ist auch meist der kampf mit dem meergotte verbunden 42), seit
alters ebenso berühmt wie der löwenkampf. damit ist die göttlichkeit
erworben; wahrscheinlich hat also die sagenform das echte bewahrt, welche
den helden unmittelbar in den himmelssaal führt, und ist jede vorstellung
von seinem tode eine, wenn auch alte, so doch secundäre bildung; ein

thischen gefäſs, das er publicirt, und bei Homer. aber Homer beweist für Hellas
gar nichts, sondern für Asien, und es ist vielmehr für die herrschaft des epos ein
neuer beleg, daſs die tierkämpfe, welche in ihm verherrlicht sind, auch in gegenden
dargestellt werden, wo sie dem leben fremd sind. wäre dem nicht so, so müſsten
die künstler doch die ungleich häufigeren tierkämpfe schildern, welche notorisch in
Hellas den hirten drohten. wo sind die bären? die gab es doch im ‘Bärenland’
Arkadien? und gar die wölfe: noch Solon hat um sie auszurotten jagdprämien aus-
gesetzt. und ferner müſste die sage doch wol löwen in Hellas kennen. aber es
gibt nur einen, den des Herakles. auſser ihm kenne ich nur noch den löwen von
Keos: der liegt noch da, in lebenden fels gemeiſselt, es war vermutlich eine fels-
kuppe gewesen, in der die volksphantasie einen löwen sah, und der die kunst nach-
geholfen hat. vgl. de Eurip. Heraclid. 8. dieser löwe ist ein wunderwesen, er
scheucht die nymphen selbst: also zu den gewöhnlichen waldbewohnern gehört er
nicht. der nemeische ist aus dem monde gekommen: also gab es auf erden keine
andern im gesichtskreis der Argeier. der lesbische löwe (schol. Theokrit. 13, 6) ist
vielleicht dem keischen verwandt. denn dieser scheucht die Βρῖσαι (Βρεῖσαι), die
nymphen, und dieser name kehrt nur auf Lesbos wieder, wo Βρῆσα liegt und Διό-
νυσος Βρησεύς Βρεισεύς zu hause ist.
42) Da auch die sage, in welcher der meergott Acheloos heiſst, dem Herakles
das füllhorn gibt, so ist auch ihr inhalt der erwerb der ewigen seligkeit.
19*
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[291/0311] Inhalt der ältesten sage. die überwindung der γηγενεῖς durch den διογενής gehört zum wesen der sage; aber sie ist in so zahllosen formen historisirt, und hat selbst in universaler bedeutung sich so früh in zwei wieder vielfach verästelte zweige gespalten, daſs der alte stamm nicht sicher kenntlich ist. einmal ist der gegner ein einzelner riese, Geryones, Halkyoneus, Kakos, oder wie der gegner hieſs, den die besiedler Kymes aus Boeotien Thessalien mitnahmen: gemeinsam ist dieser form, daſs der riese unzählige herden besitzt, d. h. ihm werden die schätze der welt abgejagt. in der andern form ist es eine mehrzahl, Giganten, Kentauren, Dryoper; hier ist eine umbildung teils unter dem einflusse hellenischer vorstellungen, teils durch concrete geschichtliche verhältnisse unverkennbar. aber zu grunde liegt die allgemeine idee, welche vom wesen des Herakles nicht getrennt werden kann. endlich muſs als hauptstück schon der ältesten erzählung berichtet sein, wie Herakles in die hölle steigt und den tod überwindet; mag nun der höllenhund selbst der tod gewesen sein oder nur sein diener. und ebenso gehört die fahrt nach dem göttergarten und die erwerbung der goldenen äpfel, d. h. der unsterblichkeit zum urbestande; mit ihr ist auch meist der kampf mit dem meergotte verbunden 42), seit alters ebenso berühmt wie der löwenkampf. damit ist die göttlichkeit erworben; wahrscheinlich hat also die sagenform das echte bewahrt, welche den helden unmittelbar in den himmelssaal führt, und ist jede vorstellung von seinem tode eine, wenn auch alte, so doch secundäre bildung; ein 41) 42) Da auch die sage, in welcher der meergott Acheloos heiſst, dem Herakles das füllhorn gibt, so ist auch ihr inhalt der erwerb der ewigen seligkeit. 41) thischen gefäſs, das er publicirt, und bei Homer. aber Homer beweist für Hellas gar nichts, sondern für Asien, und es ist vielmehr für die herrschaft des epos ein neuer beleg, daſs die tierkämpfe, welche in ihm verherrlicht sind, auch in gegenden dargestellt werden, wo sie dem leben fremd sind. wäre dem nicht so, so müſsten die künstler doch die ungleich häufigeren tierkämpfe schildern, welche notorisch in Hellas den hirten drohten. wo sind die bären? die gab es doch im ‘Bärenland’ Arkadien? und gar die wölfe: noch Solon hat um sie auszurotten jagdprämien aus- gesetzt. und ferner müſste die sage doch wol löwen in Hellas kennen. aber es gibt nur einen, den des Herakles. auſser ihm kenne ich nur noch den löwen von Keos: der liegt noch da, in lebenden fels gemeiſselt, es war vermutlich eine fels- kuppe gewesen, in der die volksphantasie einen löwen sah, und der die kunst nach- geholfen hat. vgl. de Eurip. Heraclid. 8. dieser löwe ist ein wunderwesen, er scheucht die nymphen selbst: also zu den gewöhnlichen waldbewohnern gehört er nicht. der nemeische ist aus dem monde gekommen: also gab es auf erden keine andern im gesichtskreis der Argeier. der lesbische löwe (schol. Theokrit. 13, 6) ist vielleicht dem keischen verwandt. denn dieser scheucht die Βρῖσαι (Βρεῖσαι), die nymphen, und dieser name kehrt nur auf Lesbos wieder, wo Βρῆσα liegt und Διό- νυσος Βρησεύς Βρεισεύς zu hause ist. 19*

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 291. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/311>, abgerufen am 22.11.2024.