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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Wege und ziele der modernen tragikerkritik.
stünden, scheint den grossen grammatikern gar nicht zum bewusstsein zu
kommen. auch nur den gedankenzusammenhang zu erläutern versäumen
sie in ihren ausgaben so gut wie durchweg, und es ist bezeichnend dass
athetese und umstellung von versen sich in ihrer kritischen rüstkammer
nicht vorfinden. dass es vollends gedichte sind, die sie behandeln, und
dass die dichter menschen sind, für deren offenbarung sie die dolmetscher
sein sollten, davon trifft man das bewusstsein noch seltener. das histo-
rische gefühl ist äusserst fein, wenn es sich um ein wort oder eine con-
struction handelt; weiter reicht es nicht. wer die rede liest, die Porson
bei der übernahme seiner professur in Cambridge gehalten hat, wird mit
grauen den scharfen kritiker jede hirnlose fabel weitergeben sehen, und
wird sich angesichts des trivialsten geredes über die poesie des Euripides
und den wert der Hekabe freuen, dass der grosse sprachmeister über das
sprachliche sonst nie hinausgegangen ist. wertvoll ist an der rede nur
das geständnis, dass ihm Euripides der liebste tragiker war, weil in seiner
sprache (d. h. im dialog; von den chören ist auch hier keine rede) nativa
venustas et inaffectata simplicitas
enthalten sei. Porson war ein leidenschaft-
licher verehrer Shakespeares: wer den grossen philologen lieb hat, wird
sich gern damit trösten, dass er also doch für poesie als solche empfäng-
lich war: die attischen dichter hat er nur als meister der lexis angesehen
und geschätzt.

Brunck.

Darin waren männer anderer nationen Porson überlegen, so wenig
sie den vergleich mit seinem scharfsinn und wissen aushalten mögen. der
liebenswürdige Elsässer Philipp Brunck hatte schon das voraus, dass er
nicht von der zunft war, sondern als französischer kriegscommissar in
Giessen von der liebe zur griechischen poesie für den dienst derselben
gewonnen wurde. was verschlägt es, dass er niemals die sprachliche
sicherheit gewann, und deshalb sich gern an zweifelhafte aber für den
gebrauch bequem formulirte canones als autoritäten anschloss? was ver-
schlägt es auch, dass sein name als vater von conjecturen nicht sehr
häufig unter unseren texten steht? ins weite hat er durch seine zahl-
reichen ausgaben, unter denen die tragiker allerdings nicht in erster reihe
stehn, mehr gewirkt als die esoterische lehre der Engländer. er lieferte
dem erstarkenden gefallen an der alten poesie die mittel, schon weil seine
sauberen geschmackvoll ausgestatteten bücher von einem eleganten sohne
des 18. jahrhunderts auch für elegante hände bestimmt waren. und ihm
war es immer gegenwärtig, dass er poesie behandelte. er liess sich aber
auch angelegen sein, das handschriftliche material zu beschaffen, und was
Paris davon bot, hat er erschlossen. so kam der codex 2712 für Sophokles,

Wege und ziele der modernen tragikerkritik.
stünden, scheint den groſsen grammatikern gar nicht zum bewuſstsein zu
kommen. auch nur den gedankenzusammenhang zu erläutern versäumen
sie in ihren ausgaben so gut wie durchweg, und es ist bezeichnend daſs
athetese und umstellung von versen sich in ihrer kritischen rüstkammer
nicht vorfinden. daſs es vollends gedichte sind, die sie behandeln, und
daſs die dichter menschen sind, für deren offenbarung sie die dolmetscher
sein sollten, davon trifft man das bewuſstsein noch seltener. das histo-
rische gefühl ist äuſserst fein, wenn es sich um ein wort oder eine con-
struction handelt; weiter reicht es nicht. wer die rede liest, die Porson
bei der übernahme seiner professur in Cambridge gehalten hat, wird mit
grauen den scharfen kritiker jede hirnlose fabel weitergeben sehen, und
wird sich angesichts des trivialsten geredes über die poesie des Euripides
und den wert der Hekabe freuen, daſs der groſse sprachmeister über das
sprachliche sonst nie hinausgegangen ist. wertvoll ist an der rede nur
das geständnis, daſs ihm Euripides der liebste tragiker war, weil in seiner
sprache (d. h. im dialog; von den chören ist auch hier keine rede) nativa
venustas et inaffectata simplicitas
enthalten sei. Porson war ein leidenschaft-
licher verehrer Shakespeares: wer den groſsen philologen lieb hat, wird
sich gern damit trösten, daſs er also doch für poesie als solche empfäng-
lich war: die attischen dichter hat er nur als meister der λέξις angesehen
und geschätzt.

Brunck.

Darin waren männer anderer nationen Porson überlegen, so wenig
sie den vergleich mit seinem scharfsinn und wissen aushalten mögen. der
liebenswürdige Elsässer Philipp Brunck hatte schon das voraus, daſs er
nicht von der zunft war, sondern als französischer kriegscommissar in
Gieſsen von der liebe zur griechischen poesie für den dienst derselben
gewonnen wurde. was verschlägt es, daſs er niemals die sprachliche
sicherheit gewann, und deshalb sich gern an zweifelhafte aber für den
gebrauch bequem formulirte canones als autoritäten anschloſs? was ver-
schlägt es auch, daſs sein name als vater von conjecturen nicht sehr
häufig unter unseren texten steht? ins weite hat er durch seine zahl-
reichen ausgaben, unter denen die tragiker allerdings nicht in erster reihe
stehn, mehr gewirkt als die esoterische lehre der Engländer. er lieferte
dem erstarkenden gefallen an der alten poesie die mittel, schon weil seine
sauberen geschmackvoll ausgestatteten bücher von einem eleganten sohne
des 18. jahrhunderts auch für elegante hände bestimmt waren. und ihm
war es immer gegenwärtig, daſs er poesie behandelte. er lieſs sich aber
auch angelegen sein, das handschriftliche material zu beschaffen, und was
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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 230. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/250>, abgerufen am 27.11.2024.