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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Geschichte des tragikertextes.

Da die dramen viele jahrhunderte lang das gleiche geschick gehabt
haben, so teilen sie auch die entstellung. doch auch da sind gradunter-
schiede. Helene Herakleiden Kyklops Elektra sind besser erhalten als die
folgenden, deren corruptel nach dem ende zu immer noch steigt, bis in der
aulischen Iphigeneia auch dafür ein exempel ist, wie ein stück aussieht,
das nicht einmal sondern mehrfach von interpolatoren verwüstet und
demzufolge unheilbar ist. unverkennbar ist ferner, dass der zustand, in
welchem die einzelnen tragödien in jene ausgabe kamen, ein ganz ver-
schiedener war; offenbar hat kein sorgsamer gelehrter darüber gewacht.
neben dem schauspielerexemplar der Herakleiden steht der Kyklop, der
kaum übeler zugerichtet ist als die dramen der auswahl, namentlich auch
von jeder schauspielerinterpolation frei 196): natürlich, denn das alte satyr-
spiel war nach dem 5. jahrhundert nicht mehr mode. die Elektra war
aus einem buche genommen, das mehrfach parallelstellen am rande
trug 197); die Hiketiden enthalten eine partie durch erweiternde inter-
polation entstellt, welche noch um 250 v. Chr. in Athen unverdorben
geläufig war 198). und so ergibt sich auch hier bei individueller behand-
lung des merkwürdigen und fördernden genug.

Die philologie des altertums ist fast unmittelbar zu derselben zeit,
wo sie wissenschaft ward, herabgesunken zur textkritik und zur schrift-
erklärung, und diese letztere ist sehr rasch auf die abschüssige bahn
gelangt, nur das nächste wortverständnis der einzelnen stelle zu suchen.
die philosophische poetik, die geschichtliche erfassung des werkes und
des dichters, ja auch nur die erklärung des einzelnen werkes als eines
ganzen hat sie teils niemals, teils nach Aristophanes wenigstens nicht
mehr angestrebt. es gibt keinen versuch eine geschichte der tragödie oder
eine technik des dramas oder eine theorie des tragischen zu schreiben.

196) Es ist überhaupt nur ein vers, 202, unecht, und der ist erst byzantinischen
ursprungs. alle anderen athetesen sind verkehrt. das einzige antike drama welches
gar keinen falschen vers zu enthalten scheint, ist der Rhesos, und von dem wissen
wir, dass er ehedem eine falsche scene hatte.
197) El. 373--79, von welchen der letzte aus der Auge citirt wird, 386--90,
941--44 (von Bruhn erkannt) 1097--99. ausserdem sind mehrere dittographien darin.
198) Euripides hatte von Tydeus gesagt (902) ouk en logois en lampros all en
aspidi deinos sophistes ton t agumnaston phoneus (Antig. Karyst. s. 73): daran
ist nach abwerfung des letzten halbverses in unseren handschriften eine widersinnige
tirade von 6 versen getreten, von denen übrigens die letzten zwei eine dittographie
sind, die in einer anderen redaction gleich auf 901 folgte: diese ebenfalls, aber anders,
interpolirte fassung stand in der ausgabe, welche das florilegium benutzt hat: Stob.
ecl. II 185 Wachsm.
Geschichte des tragikertextes.

Da die dramen viele jahrhunderte lang das gleiche geschick gehabt
haben, so teilen sie auch die entstellung. doch auch da sind gradunter-
schiede. Helene Herakleiden Kyklops Elektra sind besser erhalten als die
folgenden, deren corruptel nach dem ende zu immer noch steigt, bis in der
aulischen Iphigeneia auch dafür ein exempel ist, wie ein stück aussieht,
das nicht einmal sondern mehrfach von interpolatoren verwüstet und
demzufolge unheilbar ist. unverkennbar ist ferner, daſs der zustand, in
welchem die einzelnen tragödien in jene ausgabe kamen, ein ganz ver-
schiedener war; offenbar hat kein sorgsamer gelehrter darüber gewacht.
neben dem schauspielerexemplar der Herakleiden steht der Kyklop, der
kaum übeler zugerichtet ist als die dramen der auswahl, namentlich auch
von jeder schauspielerinterpolation frei 196): natürlich, denn das alte satyr-
spiel war nach dem 5. jahrhundert nicht mehr mode. die Elektra war
aus einem buche genommen, das mehrfach parallelstellen am rande
trug 197); die Hiketiden enthalten eine partie durch erweiternde inter-
polation entstellt, welche noch um 250 v. Chr. in Athen unverdorben
geläufig war 198). und so ergibt sich auch hier bei individueller behand-
lung des merkwürdigen und fördernden genug.

Die philologie des altertums ist fast unmittelbar zu derselben zeit,
wo sie wissenschaft ward, herabgesunken zur textkritik und zur schrift-
erklärung, und diese letztere ist sehr rasch auf die abschüssige bahn
gelangt, nur das nächste wortverständnis der einzelnen stelle zu suchen.
die philosophische poetik, die geschichtliche erfassung des werkes und
des dichters, ja auch nur die erklärung des einzelnen werkes als eines
ganzen hat sie teils niemals, teils nach Aristophanes wenigstens nicht
mehr angestrebt. es gibt keinen versuch eine geschichte der tragödie oder
eine technik des dramas oder eine theorie des tragischen zu schreiben.

196) Es ist überhaupt nur ein vers, 202, unecht, und der ist erst byzantinischen
ursprungs. alle anderen athetesen sind verkehrt. das einzige antike drama welches
gar keinen falschen vers zu enthalten scheint, ist der Rhesos, und von dem wissen
wir, daſs er ehedem eine falsche scene hatte.
197) El. 373—79, von welchen der letzte aus der Auge citirt wird, 386—90,
941—44 (von Bruhn erkannt) 1097—99. auſserdem sind mehrere dittographien darin.
198) Euripides hatte von Tydeus gesagt (902) οὐκ ἐν λόγοις ἦν λαμπρὸς ἀλλ̕ ἐν
ἀσπίδι δεινὸς σοφιστὴς τῶν τ̕ ἀγυμνάστων φονεύς (Antig. Karyst. s. 73): daran
ist nach abwerfung des letzten halbverses in unseren handschriften eine widersinnige
tirade von 6 versen getreten, von denen übrigens die letzten zwei eine dittographie
sind, die in einer anderen redaction gleich auf 901 folgte: diese ebenfalls, aber anders,
interpolirte fassung stand in der ausgabe, welche das florilegium benutzt hat: Stob.
ecl. II 185 Wachsm.
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[218/0238] Geschichte des tragikertextes. Da die dramen viele jahrhunderte lang das gleiche geschick gehabt haben, so teilen sie auch die entstellung. doch auch da sind gradunter- schiede. Helene Herakleiden Kyklops Elektra sind besser erhalten als die folgenden, deren corruptel nach dem ende zu immer noch steigt, bis in der aulischen Iphigeneia auch dafür ein exempel ist, wie ein stück aussieht, das nicht einmal sondern mehrfach von interpolatoren verwüstet und demzufolge unheilbar ist. unverkennbar ist ferner, daſs der zustand, in welchem die einzelnen tragödien in jene ausgabe kamen, ein ganz ver- schiedener war; offenbar hat kein sorgsamer gelehrter darüber gewacht. neben dem schauspielerexemplar der Herakleiden steht der Kyklop, der kaum übeler zugerichtet ist als die dramen der auswahl, namentlich auch von jeder schauspielerinterpolation frei 196): natürlich, denn das alte satyr- spiel war nach dem 5. jahrhundert nicht mehr mode. die Elektra war aus einem buche genommen, das mehrfach parallelstellen am rande trug 197); die Hiketiden enthalten eine partie durch erweiternde inter- polation entstellt, welche noch um 250 v. Chr. in Athen unverdorben geläufig war 198). und so ergibt sich auch hier bei individueller behand- lung des merkwürdigen und fördernden genug. Die philologie des altertums ist fast unmittelbar zu derselben zeit, wo sie wissenschaft ward, herabgesunken zur textkritik und zur schrift- erklärung, und diese letztere ist sehr rasch auf die abschüssige bahn gelangt, nur das nächste wortverständnis der einzelnen stelle zu suchen. die philosophische poetik, die geschichtliche erfassung des werkes und des dichters, ja auch nur die erklärung des einzelnen werkes als eines ganzen hat sie teils niemals, teils nach Aristophanes wenigstens nicht mehr angestrebt. es gibt keinen versuch eine geschichte der tragödie oder eine technik des dramas oder eine theorie des tragischen zu schreiben. 196) Es ist überhaupt nur ein vers, 202, unecht, und der ist erst byzantinischen ursprungs. alle anderen athetesen sind verkehrt. das einzige antike drama welches gar keinen falschen vers zu enthalten scheint, ist der Rhesos, und von dem wissen wir, daſs er ehedem eine falsche scene hatte. 197) El. 373—79, von welchen der letzte aus der Auge citirt wird, 386—90, 941—44 (von Bruhn erkannt) 1097—99. auſserdem sind mehrere dittographien darin. 198) Euripides hatte von Tydeus gesagt (902) οὐκ ἐν λόγοις ἦν λαμπρὸς ἀλλ̕ ἐν ἀσπίδι δεινὸς σοφιστὴς τῶν τ̕ ἀγυμνάστων φονεύς (Antig. Karyst. s. 73): daran ist nach abwerfung des letzten halbverses in unseren handschriften eine widersinnige tirade von 6 versen getreten, von denen übrigens die letzten zwei eine dittographie sind, die in einer anderen redaction gleich auf 901 folgte: diese ebenfalls, aber anders, interpolirte fassung stand in der ausgabe, welche das florilegium benutzt hat: Stob. ecl. II 185 Wachsm.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 218. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/238>, abgerufen am 26.11.2024.