Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.Reste der gesammtausgabe. masslos verwüstet ist, unterscheiden 175) und das ursprüngliche erkennenlehren. die andern stücke hat P nicht aus der gemeinsamen vorlage ab- geschrieben, sondern sich einen text zurecht gemacht, teils aus dieser vor- lage, teils aus einer nicht bedeutenden handschrift von der sippe VB etwa. das mischungsverhältnis ist verschieden; in den drei ersten stücken und Andromache folgt er mehr dem vulgären, in Rhesos und Alkestis stimmt er mehr zu C: es leuchtet ein, dass P für diese dramen ganz wertlos ist; es sei denn, er hilft einmal eine überschmierte lesart von C erkennen 176). nun hat er aber auch Troerinnen, die in C fehlen, und zwar stark abweichend von V., also nicht aus jener überlieferung, und die Bakchen vollständig, 175) Der corrector war kein gescheidter mann, und metrisch namentlich hat er nur gesündigt. dennoch hat er im Herakles an 8 stellen kleinigkeiten wirklich berichtigt. 176) E. Bruhn (lucubr. Eurip. 255) hat versucht die contamination von P, nach- dem Prinz sie für die drei ersten stücke schon zugegeben hatte, auf die Andromache zu beschränken, weil er eimen jungen Turiner codex aufgefunden hat, der ganz zu P stimmt: aber der codex ist zu jung, als dass P aus ihm geschöpft haben könnte und in seiner vorlage können gern mehr stücke gestanden haben. ganz übrigens kann Bruhn das eindringen von fremden Ilesarten auch sonst nicht leugnen, meint aber C starker inter- polation überführen zu können. indessen spricht da die reihe der neun stücke zu ver- nehmlich, die wirklich C und P aus derselben vorlage haben. ausserdem kann ein über- einstimmen mit Par. B in der Alkestis wahrlich nichts für interpolation beweisen, wie die obige übersicht der überlieferung lehrt. das sind fälle wie sie z. b. im Hippolytos häufig sind, wo C zu M stehen würde. minutien wie accente und dgl. kommen über- haupt nicht in betracht, und correcturen in C für den schreiber auch nicht. somit fällt die zudem äusserst verwickelte verhältnisse für P voraussetzende ansicht. den berühmten vers der Medeia 1078 kai manthano men oia dran mello kaka acceptire ich als schiboleth. hie C und alle zeugnisse seit Chrysippos zeit, da P und alle anderen handschriften. da meint Bruhn lieber, C habe aus dem gedächtnis geändert (war im 13. jahrhundert der vers noch fliegendes wort?), nicht P, wie doch sonst auch nach seinem urteil, aus der vulgärüberlieferung. schlimmer ist freilich, dass Euripides tolmeso für dran mello zugetraut wird. "ich erkenne wol die verbrechen, zu denen ich mich entschliessen werde", statt "die ich begehen werde, aber die leiden- schaft ist stärker als meine überlegung". die leidenschaft ist etwas, das sie als eine andere person empfindet, deren werkzeug sie nur ist. daher sagt sie nicht draso, was an sich gienge, sondern setzt die periphrase, die uns so recht zeigt, dass sie über kurz oder lang beim dran ankommen wird (man muss doch mello in seiner ganzen bedeutungsfülle wie ein Grieche empfinden): tolmeso, was den eignen entschluss einschliesst, kann sie nicht sagen, ohne die selbstverteidigung aufzugeben. etolmesa phoneusai sagt der ekon phoneus, emellesa phoneusai der akon. dass der Khristos paskhon die lesarten von CP rein wiedergäbe, hätte Bruhn nicht auf Kirch- hoffs autorität weiter sagen sollen: das war durch die arbeiten von A. Doering berichtigt. v. Wilamowitz I. 14
Reste der gesammtausgabe. maſslos verwüstet ist, unterscheiden 175) und das ursprüngliche erkennenlehren. die andern stücke hat P nicht aus der gemeinsamen vorlage ab- geschrieben, sondern sich einen text zurecht gemacht, teils aus dieser vor- lage, teils aus einer nicht bedeutenden handschrift von der sippe VB etwa. das mischungsverhältnis ist verschieden; in den drei ersten stücken und Andromache folgt er mehr dem vulgären, in Rhesos und Alkestis stimmt er mehr zu C: es leuchtet ein, daſs P für diese dramen ganz wertlos ist; es sei denn, er hilft einmal eine überschmierte lesart von C erkennen 176). nun hat er aber auch Troerinnen, die in C fehlen, und zwar stark abweichend von V., also nicht aus jener überlieferung, und die Bakchen vollständig, 175) Der corrector war kein gescheidter mann, und metrisch namentlich hat er nur gesündigt. dennoch hat er im Herakles an 8 stellen kleinigkeiten wirklich berichtigt. 176) E. Bruhn (lucubr. Eurip. 255) hat versucht die contamination von P, nach- dem Prinz sie für die drei ersten stücke schon zugegeben hatte, auf die Andromache zu beschränken, weil er eimen jungen Turiner codex aufgefunden hat, der ganz zu P stimmt: aber der codex ist zu jung, als daſs P aus ihm geschöpft haben könnte und in seiner vorlage können gern mehr stücke gestanden haben. ganz übrigens kann Bruhn das eindringen von fremden Ilesarten auch sonst nicht leugnen, meint aber C starker inter- polation überführen zu können. indessen spricht da die reihe der neun stücke zu ver- nehmlich, die wirklich C und P aus derselben vorlage haben. auſserdem kann ein über- einstimmen mit Par. B in der Alkestis wahrlich nichts für interpolation beweisen, wie die obige übersicht der überlieferung lehrt. das sind fälle wie sie z. b. im Hippolytos häufig sind, wo C zu M stehen würde. minutien wie accente und dgl. kommen über- haupt nicht in betracht, und correcturen in C für den schreiber auch nicht. somit fällt die zudem äuſserst verwickelte verhältnisse für P voraussetzende ansicht. den berühmten vers der Medeia 1078 ϰαὶ μανϑάνω μὲν οἷα δρᾶν μέλλω ϰαϰά acceptire ich als schiboleth. hie C und alle zeugnisse seit Chrysippos zeit, da P und alle anderen handschriften. da meint Bruhn lieber, C habe aus dem gedächtnis geändert (war im 13. jahrhundert der vers noch fliegendes wort?), nicht P, wie doch sonst auch nach seinem urteil, aus der vulgärüberlieferung. schlimmer ist freilich, daſs Euripides τολμήσω für δρᾶν μέλλω zugetraut wird. “ich erkenne wol die verbrechen, zu denen ich mich entschlieſsen werde”, statt “die ich begehen werde, aber die leiden- schaft ist stärker als meine überlegung”. die leidenschaft ist etwas, das sie als eine andere person empfindet, deren werkzeug sie nur ist. daher sagt sie nicht δράσω, was an sich gienge, sondern setzt die periphrase, die uns so recht zeigt, daſs sie über kurz oder lang beim δρᾶν ankommen wird (man muſs doch μέλλω in seiner ganzen bedeutungsfülle wie ein Grieche empfinden): τολμήσω, was den eignen entschluſs einschlieſst, kann sie nicht sagen, ohne die selbstverteidigung aufzugeben. ἐτόλμησα φονεῦσαι sagt der ἑϰὼν φονεύς, έμέλλησα φονεῦσαι der ἄϰων. daſs der Χριστὸς πάσχων die lesarten von CP rein wiedergäbe, hätte Bruhn nicht auf Kirch- hoffs autorität weiter sagen sollen: das war durch die arbeiten von A. Doering berichtigt. v. Wilamowitz I. 14
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maſslos verwüstet ist, unterscheiden 175) und das ursprüngliche erkennen
lehren. die andern stücke hat P nicht aus der gemeinsamen vorlage ab-
geschrieben, sondern sich einen text zurecht gemacht, teils aus dieser vor-
lage, teils aus einer nicht bedeutenden handschrift von der sippe VB etwa.
das mischungsverhältnis ist verschieden; in den drei ersten stücken und
Andromache folgt er mehr dem vulgären, in Rhesos und Alkestis stimmt er
mehr zu C: es leuchtet ein, daſs P für diese dramen ganz wertlos ist; es sei
denn, er hilft einmal eine überschmierte lesart von C erkennen 176). nun
hat er aber auch Troerinnen, die in C fehlen, und zwar stark abweichend
von V., also nicht aus jener überlieferung, und die Bakchen vollständig,
175) Der corrector war kein gescheidter mann, und metrisch namentlich hat
er nur gesündigt. dennoch hat er im Herakles an 8 stellen kleinigkeiten wirklich
berichtigt.
176) E. Bruhn (lucubr. Eurip. 255) hat versucht die contamination von P, nach-
dem Prinz sie für die drei ersten stücke schon zugegeben hatte, auf die Andromache
zu beschränken, weil er eimen jungen Turiner codex aufgefunden hat, der ganz zu P
stimmt: aber der codex ist zu jung, als daſs P aus ihm geschöpft haben könnte und in
seiner vorlage können gern mehr stücke gestanden haben. ganz übrigens kann Bruhn
das eindringen von fremden Ilesarten auch sonst nicht leugnen, meint aber C starker inter-
polation überführen zu können. indessen spricht da die reihe der neun stücke zu ver-
nehmlich, die wirklich C und P aus derselben vorlage haben. auſserdem kann ein über-
einstimmen mit Par. B in der Alkestis wahrlich nichts für interpolation beweisen, wie
die obige übersicht der überlieferung lehrt. das sind fälle wie sie z. b. im Hippolytos
häufig sind, wo C zu M stehen würde. minutien wie accente und dgl. kommen über-
haupt nicht in betracht, und correcturen in C für den schreiber auch nicht. somit
fällt die zudem äuſserst verwickelte verhältnisse für P voraussetzende ansicht. den
berühmten vers der Medeia 1078 ϰαὶ μανϑάνω μὲν οἷα δρᾶν μέλλω ϰαϰά acceptire ich
als schiboleth. hie C und alle zeugnisse seit Chrysippos zeit, da P und alle anderen
handschriften. da meint Bruhn lieber, C habe aus dem gedächtnis geändert (war
im 13. jahrhundert der vers noch fliegendes wort?), nicht P, wie doch sonst auch
nach seinem urteil, aus der vulgärüberlieferung. schlimmer ist freilich, daſs Euripides
τολμήσω für δρᾶν μέλλω zugetraut wird. “ich erkenne wol die verbrechen, zu
denen ich mich entschlieſsen werde”, statt “die ich begehen werde, aber die leiden-
schaft ist stärker als meine überlegung”. die leidenschaft ist etwas, das sie als
eine andere person empfindet, deren werkzeug sie nur ist. daher sagt sie nicht
δράσω, was an sich gienge, sondern setzt die periphrase, die uns so recht zeigt,
daſs sie über kurz oder lang beim δρᾶν ankommen wird (man muſs doch μέλλω in
seiner ganzen bedeutungsfülle wie ein Grieche empfinden): τολμήσω, was den eignen
entschluſs einschlieſst, kann sie nicht sagen, ohne die selbstverteidigung aufzugeben.
ἐτόλμησα φονεῦσαι sagt der ἑϰὼν φονεύς, έμέλλησα φονεῦσαι der ἄϰων. daſs der
Χριστὸς πάσχων die lesarten von CP rein wiedergäbe, hätte Bruhn nicht auf Kirch-
hoffs autorität weiter sagen sollen: das war durch die arbeiten von A. Doering
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