Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.Geschichte des tragikertextes. oder zeitgemäss mit einem schreibfehler Teitanios 110), und Lukinosnannten, herzlich wenig griechisch. die meisten stammten auch aus der barbarei und verwunderten sich bass, wenn sie auf einer ferienreise ins griechische gebirge (denn auch die nervenschwäche natur suchender grossstädter grassirte) köhler und sennen besser griechisch reden hörten als die gefeiertsten professoren. die voraussetzungen, welche die ältere grammatik gemacht hatte, trafen nicht mehr zu. es half nichts, man musste dieser gesellschaft den Pindar ganz und den Euripides auch auf weite strecken hin in ihre sprache übersetzen. die zeit der paraphrase bricht herein 110 a). übersetzt hatte Aristarch homerische vocabeln auch, sowol um den bedeutungswandel zu erklären wie um die irrtümer der glosso- graphen fern zu halten. rätselgedichte, wie die Alexandra des Lykophron, waren überhaupt nicht ohne paraphrase verständlich. aber diese wenigen ausnahmen beweisen nichts, und die pindarische paraphrase war von jener homerischen worterklärung Aristarchs himmelweit verschieden. nicht nur war jetzt das drama so alt geworden, wie Homer zu Aristarchs zeit ge- wesen war: die menschen waren nicht nur der sprache sondern dem ganzen wesen der tragödie so entfremdet, dass sie eine übersetzung brauchten. So erzeugte also wiederum das bedürfnis der zeit einen veränderten 110) Teitanie deie in einem spartanischen epigramm, Kaibel 473, zu dem Kirch- hoff auf Lukian de hist. conscr. 21 verweist metagrapsai eis to Ellenikon, os -- Titanion ton Titianon. das pikante ist, dass der tadler sich selbst als Lukinos einzuführen pflegt. 110 a) Einen ganz anderen zweck hatte die rhetorische paraphrase gehabt, welche
Quintilian mit recht als eine der vorzüglichsten stilübungen preist. I 9, 3 versus primo solvere, mox mutatis verbis interpretari: tum paraphrasi audacius vertere, qua et breviare quaedam et exornare salvo modo poetae sensu permittitur. quod opus, etiam consummatis professoribus difficile, qui commode tractaverit, cuicum- que discendo sufficiat. wenn unsere schulen dieses progymmnasma übten, würden die s. g. gebildeten vielleicht ein bischen stilgefühl besitzen, das ihnen jetzt der deutsche und vollends der lateinische aussatz gründlich auszutreiben pflegt. natür- lich haben die antiken rhetoren auch solche musterstücke veröffentlicht, wie Dion die paraphrase des euripideischen Philoktetprologes. aber rhetoren und grammatiker berühren sich kaum, und auf unsere scholien hat die rhetorische paraphrase nur spät und wenig gewirkt. Geschichte des tragikertextes. oder zeitgemäſs mit einem schreibfehler Τειτάνιος 110), und Λυκῖνοςnannten, herzlich wenig griechisch. die meisten stammten auch aus der barbarei und verwunderten sich baſs, wenn sie auf einer ferienreise ins griechische gebirge (denn auch die nervenschwäche natur suchender groſsstädter grassirte) köhler und sennen besser griechisch reden hörten als die gefeiertsten professoren. die voraussetzungen, welche die ältere grammatik gemacht hatte, trafen nicht mehr zu. es half nichts, man muſste dieser gesellschaft den Pindar ganz und den Euripides auch auf weite strecken hin in ihre sprache übersetzen. die zeit der paraphrase bricht herein 110 a). übersetzt hatte Aristarch homerische vocabeln auch, sowol um den bedeutungswandel zu erklären wie um die irrtümer der glosso- graphen fern zu halten. rätselgedichte, wie die Alexandra des Lykophron, waren überhaupt nicht ohne paraphrase verständlich. aber diese wenigen ausnahmen beweisen nichts, und die pindarische paraphrase war von jener homerischen worterklärung Aristarchs himmelweit verschieden. nicht nur war jetzt das drama so alt geworden, wie Homer zu Aristarchs zeit ge- wesen war: die menschen waren nicht nur der sprache sondern dem ganzen wesen der tragödie so entfremdet, daſs sie eine übersetzung brauchten. So erzeugte also wiederum das bedürfnis der zeit einen veränderten 110) Τειτάνιε δεῖε in einem spartanischen epigramm, Kaibel 473, zu dem Kirch- hoff auf Lukian de hist. conscr. 21 verweist μεταγράψαι εἰς τὸ Ἑλληνικόν, ὡς — Τιτάνιον τὸν Τιτιανόν. das pikante ist, daſs der tadler sich selbst als Λυκῖνος einzuführen pflegt. 110 a) Einen ganz anderen zweck hatte die rhetorische paraphrase gehabt, welche
Quintilian mit recht als eine der vorzüglichsten stilübungen preist. I 9, 3 versus primo solvere, mox mutatis verbis interpretari: tum paraphrasi audacius vertere, qua et breviare quaedam et exornare salvo modo poetae sensu permittitur. quod opus, etiam consummatis professoribus difficile, qui commode tractaverit, cuicum- que discendo sufficiat. wenn unsere schulen dieses progymmnasma übten, würden die s. g. gebildeten vielleicht ein bischen stilgefühl besitzen, das ihnen jetzt der deutsche und vollends der lateinische auſsatz gründlich auszutreiben pflegt. natür- lich haben die antiken rhetoren auch solche musterstücke veröffentlicht, wie Dion die paraphrase des euripideischen Philoktetprologes. aber rhetoren und grammatiker berühren sich kaum, und auf unsere scholien hat die rhetorische paraphrase nur spät und wenig gewirkt. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0198" n="178"/><fw place="top" type="header">Geschichte des tragikertextes.</fw><lb/> oder zeitgemäſs mit einem schreibfehler Τειτάνιος <note place="foot" n="110)">Τειτάνιε δεῖε in einem spartanischen epigramm, Kaibel 473, zu dem Kirch-<lb/> hoff auf Lukian <hi rendition="#i">de hist. conscr</hi>. 21 verweist μεταγράψαι εἰς τὸ Ἑλληνικόν, ὡς —<lb/> Τιτάνιον τὸν Τιτιανόν. das pikante ist, daſs der tadler sich selbst als Λυκῖνος<lb/> einzuführen pflegt.</note>, und Λυκῖνος<lb/> nannten, herzlich wenig griechisch. die meisten stammten auch aus<lb/> der barbarei und verwunderten sich baſs, wenn sie auf einer ferienreise<lb/> ins griechische gebirge (denn auch die nervenschwäche natur suchender<lb/> groſsstädter grassirte) köhler und sennen besser griechisch reden hörten<lb/> als die gefeiertsten professoren. die voraussetzungen, welche die ältere<lb/> grammatik gemacht hatte, trafen nicht mehr zu. es half nichts, man<lb/> muſste dieser gesellschaft den Pindar ganz und den Euripides auch auf weite<lb/> strecken hin in ihre sprache übersetzen. die zeit der paraphrase bricht<lb/> herein <note place="foot" n="110 a)">Einen ganz anderen zweck hatte die rhetorische paraphrase gehabt, welche<lb/> Quintilian mit recht als eine der vorzüglichsten stilübungen preist. I 9, 3 <hi rendition="#i">versus<lb/> primo solvere, mox mutatis verbis interpretari: tum paraphrasi audacius vertere,<lb/> qua et breviare quaedam et exornare salvo modo poetae sensu permittitur. quod<lb/> opus, etiam consummatis professoribus difficile, qui commode tractaverit, cuicum-<lb/> que discendo sufficiat</hi>. wenn unsere schulen dieses progymmnasma übten, würden<lb/> die s. g. gebildeten vielleicht ein bischen stilgefühl besitzen, das ihnen jetzt der<lb/> deutsche und vollends der lateinische auſsatz gründlich auszutreiben pflegt. natür-<lb/> lich haben die antiken rhetoren auch solche musterstücke veröffentlicht, wie Dion<lb/> die paraphrase des euripideischen Philoktetprologes. aber rhetoren und grammatiker<lb/> berühren sich kaum, und auf unsere scholien hat die rhetorische paraphrase nur<lb/> spät und wenig gewirkt.</note>. übersetzt hatte Aristarch homerische vocabeln auch, sowol<lb/> um den bedeutungswandel zu erklären wie um die irrtümer der glosso-<lb/> graphen fern zu halten. rätselgedichte, wie die Alexandra des Lykophron,<lb/> waren überhaupt nicht ohne paraphrase verständlich. aber diese wenigen<lb/> ausnahmen beweisen nichts, und die pindarische paraphrase war von jener<lb/> homerischen worterklärung Aristarchs himmelweit verschieden. nicht nur<lb/> war jetzt das drama so alt geworden, wie Homer zu Aristarchs zeit ge-<lb/> wesen war: die menschen waren nicht nur der sprache sondern dem<lb/> ganzen wesen der tragödie so entfremdet, daſs sie eine übersetzung<lb/> brauchten.</p><lb/> <p>So erzeugte also wiederum das bedürfnis der zeit einen veränderten<lb/> betrieb der auf die dichtererklärung gerichteten studien. schulmäſsig<lb/> muſste er in seinem wesen werden, und in der schule wurden wenigstens<lb/> die classiker gelesen, zu denen jedoch immer allgemeiner auch eine reihe<lb/> von dichtern des dritten jahrhunderts gerechnet wurden. doch kamen an<lb/> diese offenbar erst vorgerücktere: so stark trivialisirt ward ihre erklärung<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [178/0198]
Geschichte des tragikertextes.
oder zeitgemäſs mit einem schreibfehler Τειτάνιος 110), und Λυκῖνος
nannten, herzlich wenig griechisch. die meisten stammten auch aus
der barbarei und verwunderten sich baſs, wenn sie auf einer ferienreise
ins griechische gebirge (denn auch die nervenschwäche natur suchender
groſsstädter grassirte) köhler und sennen besser griechisch reden hörten
als die gefeiertsten professoren. die voraussetzungen, welche die ältere
grammatik gemacht hatte, trafen nicht mehr zu. es half nichts, man
muſste dieser gesellschaft den Pindar ganz und den Euripides auch auf weite
strecken hin in ihre sprache übersetzen. die zeit der paraphrase bricht
herein 110 a). übersetzt hatte Aristarch homerische vocabeln auch, sowol
um den bedeutungswandel zu erklären wie um die irrtümer der glosso-
graphen fern zu halten. rätselgedichte, wie die Alexandra des Lykophron,
waren überhaupt nicht ohne paraphrase verständlich. aber diese wenigen
ausnahmen beweisen nichts, und die pindarische paraphrase war von jener
homerischen worterklärung Aristarchs himmelweit verschieden. nicht nur
war jetzt das drama so alt geworden, wie Homer zu Aristarchs zeit ge-
wesen war: die menschen waren nicht nur der sprache sondern dem
ganzen wesen der tragödie so entfremdet, daſs sie eine übersetzung
brauchten.
So erzeugte also wiederum das bedürfnis der zeit einen veränderten
betrieb der auf die dichtererklärung gerichteten studien. schulmäſsig
muſste er in seinem wesen werden, und in der schule wurden wenigstens
die classiker gelesen, zu denen jedoch immer allgemeiner auch eine reihe
von dichtern des dritten jahrhunderts gerechnet wurden. doch kamen an
diese offenbar erst vorgerücktere: so stark trivialisirt ward ihre erklärung
110) Τειτάνιε δεῖε in einem spartanischen epigramm, Kaibel 473, zu dem Kirch-
hoff auf Lukian de hist. conscr. 21 verweist μεταγράψαι εἰς τὸ Ἑλληνικόν, ὡς —
Τιτάνιον τὸν Τιτιανόν. das pikante ist, daſs der tadler sich selbst als Λυκῖνος
einzuführen pflegt.
110 a) Einen ganz anderen zweck hatte die rhetorische paraphrase gehabt, welche
Quintilian mit recht als eine der vorzüglichsten stilübungen preist. I 9, 3 versus
primo solvere, mox mutatis verbis interpretari: tum paraphrasi audacius vertere,
qua et breviare quaedam et exornare salvo modo poetae sensu permittitur. quod
opus, etiam consummatis professoribus difficile, qui commode tractaverit, cuicum-
que discendo sufficiat. wenn unsere schulen dieses progymmnasma übten, würden
die s. g. gebildeten vielleicht ein bischen stilgefühl besitzen, das ihnen jetzt der
deutsche und vollends der lateinische auſsatz gründlich auszutreiben pflegt. natür-
lich haben die antiken rhetoren auch solche musterstücke veröffentlicht, wie Dion
die paraphrase des euripideischen Philoktetprologes. aber rhetoren und grammatiker
berühren sich kaum, und auf unsere scholien hat die rhetorische paraphrase nur
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