Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

Bild:
<< vorherige Seite

Geschichte des tragikertextes.
nächstliegende hilfsbuch ward: das gelehrte material der scholien, soweit
es lexikalisch ist, deckt sich mit dem der lexika. es liegt eben in der
natur der sache, dass ein lexikon umgeformt und ausgezogen und er-
weitert wird, so lange der betrieb der studien lebendig bleibt. es mag
in einem solchen noch so viel individuelle arbeit stecken (was hier schwer-
lich der fall war): sie verflüchtigt sich bald, und die nachwelt nutzt nur
den gebotenen stoff. es ist also nicht zu verwundern, dass des Didymos
tragike lexis selbst sehr bald durch spätere arbeiten aus den händen
der leser verdrängt ward, mochten sie auch meist nichts tun als sie epi-
tomiren. mit recht nimmt man an, dass die lexikalische gelehrsamkeit,
die auf uns gekommen ist, soweit sie die tragödie angeht, wesentlich
Didymos verdankt wird. das nächste jahrhundert nach ihm trieb die
lexikographie noch lebhaft und häufte den stoff bis zur völligen unüber-
sichtlichkeit. als die unten eingehender dargestellte wandelung in der
griechischen cultur eintrat, in der zeit Hadrians, kam das epitomiren auf,
und ein wahrscheinlich an sich recht geringwertiges machwerk, das lexikon
des Diogenian, behauptete sich schliesslich als hilfsbuch für die classische
und auch die nachclassische poesie so gut wie allein. es kam auf die
Byzantiner, ward immer weiter verdünnt, und erhielt zum entgelt gering-
haltige oder ganz wertlose zusätze in masse. bis gegen 1000 hat das lexikon
Diogenians noch bestanden. dann wendet sich das interesse der Byzantiner
von den lexikalischen werken ab, den etymologika zu. die wertvolleren hand-
schriften, die wir von lexicis haben, sind meistens älter als das 12. jahr-
hundert, auch meist unica 88a): ein Diogenian ist zufällig nicht darunter.
auch ein unicum ist die handschrift, welcher wir das lexikon des Hesychius
verdanken, und in diesem steckt, allerdings vermischt mit sehr viel wert-
losem oder doch fremdartigem, durchgehends in der späteren weise, die
auch wir befolgen, die aber dem altertum fremd war, umgeordnet nach
der buchstabenfolge durch das ganze wort, endlich entsetzlich verkürzt,
verstümmelt, verschrieben, also im jämmerlichsten zustande, aber es
steckt wirklich der Diogenian darin. und so ist dieses buch trotz aller

88a) Auch wo wir scheinbar eine fülle von handschriften besitzen, wie von
den lexicis des Harpokration und des Erotian, liegt es in wahrheit so, dass ein einziger
text bis auf das 14. jahrhundert erhalten war, der uns nur verloren ist, und den
herzustellen die nächste aufgabe der recensio ist. allerdings repräsentirt in älterer
zeit beinahe jede neue abschrift eine neue redaction, und selbst in späterer zeit geht
das fort. man denke sich, dass von dem Harpokration von Cambridge eine abschrift
genommen wäre: dann würden wir die jetzt am rande befindlichen glossen (den jetzt
fälschlich so genannten Cl. Casilo) aufgenommen und ein ganz neues werk lesen,
das gewiss viele für einen 'plenior Harpocratio' erklären würden.

Geschichte des tragikertextes.
nächstliegende hilfsbuch ward: das gelehrte material der scholien, soweit
es lexikalisch ist, deckt sich mit dem der lexika. es liegt eben in der
natur der sache, daſs ein lexikon umgeformt und ausgezogen und er-
weitert wird, so lange der betrieb der studien lebendig bleibt. es mag
in einem solchen noch so viel individuelle arbeit stecken (was hier schwer-
lich der fall war): sie verflüchtigt sich bald, und die nachwelt nutzt nur
den gebotenen stoff. es ist also nicht zu verwundern, daſs des Didymos
τραγικὴ λέξις selbst sehr bald durch spätere arbeiten aus den händen
der leser verdrängt ward, mochten sie auch meist nichts tun als sie epi-
tomiren. mit recht nimmt man an, daſs die lexikalische gelehrsamkeit,
die auf uns gekommen ist, soweit sie die tragödie angeht, wesentlich
Didymos verdankt wird. das nächste jahrhundert nach ihm trieb die
lexikographie noch lebhaft und häufte den stoff bis zur völligen unüber-
sichtlichkeit. als die unten eingehender dargestellte wandelung in der
griechischen cultur eintrat, in der zeit Hadrians, kam das epitomiren auf,
und ein wahrscheinlich an sich recht geringwertiges machwerk, das lexikon
des Diogenian, behauptete sich schlieſslich als hilfsbuch für die classische
und auch die nachclassische poesie so gut wie allein. es kam auf die
Byzantiner, ward immer weiter verdünnt, und erhielt zum entgelt gering-
haltige oder ganz wertlose zusätze in masse. bis gegen 1000 hat das lexikon
Diogenians noch bestanden. dann wendet sich das interesse der Byzantiner
von den lexikalischen werken ab, den etymologika zu. die wertvolleren hand-
schriften, die wir von lexicis haben, sind meistens älter als das 12. jahr-
hundert, auch meist unica 88a): ein Diogenian ist zufällig nicht darunter.
auch ein unicum ist die handschrift, welcher wir das lexikon des Hesychius
verdanken, und in diesem steckt, allerdings vermischt mit sehr viel wert-
losem oder doch fremdartigem, durchgehends in der späteren weise, die
auch wir befolgen, die aber dem altertum fremd war, umgeordnet nach
der buchstabenfolge durch das ganze wort, endlich entsetzlich verkürzt,
verstümmelt, verschrieben, also im jämmerlichsten zustande, aber es
steckt wirklich der Diogenian darin. und so ist dieses buch trotz aller

88a) Auch wo wir scheinbar eine fülle von handschriften besitzen, wie von
den lexicis des Harpokration und des Erotian, liegt es in wahrheit so, daſs ein einziger
text bis auf das 14. jahrhundert erhalten war, der uns nur verloren ist, und den
herzustellen die nächste aufgabe der recensio ist. allerdings repräsentirt in älterer
zeit beinahe jede neue abschrift eine neue redaction, und selbst in späterer zeit geht
das fort. man denke sich, daſs von dem Harpokration von Cambridge eine abschrift
genommen wäre: dann würden wir die jetzt am rande befindlichen glossen (den jetzt
fälschlich so genannten Cl. Casilo) aufgenommen und ein ganz neues werk lesen,
das gewiſs viele für einen ‘plenior Harpocratio’ erklären würden.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0184" n="164"/><fw place="top" type="header">Geschichte des tragikertextes.</fw><lb/>
nächstliegende hilfsbuch ward: das gelehrte material der scholien, soweit<lb/>
es lexikalisch ist, deckt sich mit dem der lexika. es liegt eben in der<lb/>
natur der sache, da&#x017F;s ein lexikon umgeformt und ausgezogen und er-<lb/>
weitert wird, so lange der betrieb der studien lebendig bleibt. es mag<lb/>
in einem solchen noch so viel individuelle arbeit stecken (was hier schwer-<lb/>
lich der fall war): sie verflüchtigt sich bald, und die nachwelt nutzt nur<lb/>
den gebotenen stoff. es ist also nicht zu verwundern, da&#x017F;s des Didymos<lb/>
&#x03C4;&#x03C1;&#x03B1;&#x03B3;&#x03B9;&#x03BA;&#x1F74; &#x03BB;&#x03AD;&#x03BE;&#x03B9;&#x03C2; selbst sehr bald durch spätere arbeiten aus den händen<lb/>
der leser verdrängt ward, mochten sie auch meist nichts tun als sie epi-<lb/>
tomiren. mit recht nimmt man an, da&#x017F;s die lexikalische gelehrsamkeit,<lb/>
die auf uns gekommen ist, soweit sie die tragödie angeht, wesentlich<lb/>
Didymos verdankt wird. das nächste jahrhundert nach ihm trieb die<lb/>
lexikographie noch lebhaft und häufte den stoff bis zur völligen unüber-<lb/>
sichtlichkeit. als die unten eingehender dargestellte wandelung in der<lb/>
griechischen cultur eintrat, in der zeit Hadrians, kam das epitomiren auf,<lb/>
und ein wahrscheinlich an sich recht geringwertiges machwerk, das lexikon<lb/>
des Diogenian, behauptete sich schlie&#x017F;slich als hilfsbuch für die classische<lb/>
und auch die nachclassische poesie so gut wie allein. es kam auf die<lb/>
Byzantiner, ward immer weiter verdünnt, und erhielt zum entgelt gering-<lb/>
haltige oder ganz wertlose zusätze in masse. bis gegen 1000 hat das lexikon<lb/>
Diogenians noch bestanden. dann wendet sich das interesse der Byzantiner<lb/>
von den lexikalischen werken ab, den etymologika zu. die wertvolleren hand-<lb/>
schriften, die wir von lexicis haben, sind meistens älter als das 12. jahr-<lb/>
hundert, auch meist unica <note place="foot" n="88a)">Auch wo wir scheinbar eine fülle von handschriften besitzen, wie von<lb/>
den lexicis des Harpokration und des Erotian, liegt es in wahrheit so, da&#x017F;s ein einziger<lb/>
text bis auf das 14. jahrhundert erhalten war, der uns nur verloren ist, und den<lb/>
herzustellen die nächste aufgabe der recensio ist. allerdings repräsentirt in älterer<lb/>
zeit beinahe jede neue abschrift eine neue redaction, und selbst in späterer zeit geht<lb/>
das fort. man denke sich, da&#x017F;s von dem Harpokration von Cambridge eine abschrift<lb/>
genommen wäre: dann würden wir die jetzt am rande befindlichen glossen (den jetzt<lb/>
fälschlich so genannten Cl. Casilo) aufgenommen und ein ganz neues werk lesen,<lb/>
das gewi&#x017F;s viele für einen <hi rendition="#i">&#x2018;plenior Harpocratio&#x2019;</hi> erklären würden.</note>: ein Diogenian ist zufällig nicht darunter.<lb/>
auch ein unicum ist die handschrift, welcher wir das lexikon des Hesychius<lb/>
verdanken, und in diesem steckt, allerdings vermischt mit sehr viel wert-<lb/>
losem oder doch fremdartigem, durchgehends in der späteren weise, die<lb/>
auch wir befolgen, die aber dem altertum fremd war, umgeordnet nach<lb/>
der buchstabenfolge durch das ganze wort, endlich entsetzlich verkürzt,<lb/>
verstümmelt, verschrieben, also im jämmerlichsten zustande, aber es<lb/>
steckt wirklich der Diogenian darin. und so ist dieses buch trotz aller<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[164/0184] Geschichte des tragikertextes. nächstliegende hilfsbuch ward: das gelehrte material der scholien, soweit es lexikalisch ist, deckt sich mit dem der lexika. es liegt eben in der natur der sache, daſs ein lexikon umgeformt und ausgezogen und er- weitert wird, so lange der betrieb der studien lebendig bleibt. es mag in einem solchen noch so viel individuelle arbeit stecken (was hier schwer- lich der fall war): sie verflüchtigt sich bald, und die nachwelt nutzt nur den gebotenen stoff. es ist also nicht zu verwundern, daſs des Didymos τραγικὴ λέξις selbst sehr bald durch spätere arbeiten aus den händen der leser verdrängt ward, mochten sie auch meist nichts tun als sie epi- tomiren. mit recht nimmt man an, daſs die lexikalische gelehrsamkeit, die auf uns gekommen ist, soweit sie die tragödie angeht, wesentlich Didymos verdankt wird. das nächste jahrhundert nach ihm trieb die lexikographie noch lebhaft und häufte den stoff bis zur völligen unüber- sichtlichkeit. als die unten eingehender dargestellte wandelung in der griechischen cultur eintrat, in der zeit Hadrians, kam das epitomiren auf, und ein wahrscheinlich an sich recht geringwertiges machwerk, das lexikon des Diogenian, behauptete sich schlieſslich als hilfsbuch für die classische und auch die nachclassische poesie so gut wie allein. es kam auf die Byzantiner, ward immer weiter verdünnt, und erhielt zum entgelt gering- haltige oder ganz wertlose zusätze in masse. bis gegen 1000 hat das lexikon Diogenians noch bestanden. dann wendet sich das interesse der Byzantiner von den lexikalischen werken ab, den etymologika zu. die wertvolleren hand- schriften, die wir von lexicis haben, sind meistens älter als das 12. jahr- hundert, auch meist unica 88a): ein Diogenian ist zufällig nicht darunter. auch ein unicum ist die handschrift, welcher wir das lexikon des Hesychius verdanken, und in diesem steckt, allerdings vermischt mit sehr viel wert- losem oder doch fremdartigem, durchgehends in der späteren weise, die auch wir befolgen, die aber dem altertum fremd war, umgeordnet nach der buchstabenfolge durch das ganze wort, endlich entsetzlich verkürzt, verstümmelt, verschrieben, also im jämmerlichsten zustande, aber es steckt wirklich der Diogenian darin. und so ist dieses buch trotz aller 88a) Auch wo wir scheinbar eine fülle von handschriften besitzen, wie von den lexicis des Harpokration und des Erotian, liegt es in wahrheit so, daſs ein einziger text bis auf das 14. jahrhundert erhalten war, der uns nur verloren ist, und den herzustellen die nächste aufgabe der recensio ist. allerdings repräsentirt in älterer zeit beinahe jede neue abschrift eine neue redaction, und selbst in späterer zeit geht das fort. man denke sich, daſs von dem Harpokration von Cambridge eine abschrift genommen wäre: dann würden wir die jetzt am rande befindlichen glossen (den jetzt fälschlich so genannten Cl. Casilo) aufgenommen und ein ganz neues werk lesen, das gewiſs viele für einen ‘plenior Harpocratio’ erklären würden.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/184
Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 164. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/184>, abgerufen am 01.05.2024.