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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Geschichte des tragikertextes.
einzelne dramen nicht entbehren konnten, weil die buchmässige über-
lieferung nicht genügte, oder auch ein oder das andere stück nur in
bühnenexemplaren erhalten war. auch das ist sicher, dass sie sich über
die verwilderung des textes durch die schauspieler keinerlei illusionen
gemacht und mit der möglichkeit gerechnet haben, dass der text unter
deren einwirkung gelitten hätte. wir aber sind ausser diesen allgemeinen
erwägungen lediglich auf die schlüsse angewiesen, die wir aus dem zu-
stande der erhaltenen dramen ziehen, und diese sind glücklicherweise
im ganzen beruhigend.

Aesthetische
kritik.

Es ist überaus peinlich, dass wir über diese periode so wenig con-
cretes wissen oder ermitteln können, denn ohne frage ist sie für den
text die wichtigste und ist auch das interesse und verständnis für das
drama ein lebendiges gewesen. die tragödie war ja schon zu lebzeiten
ihrer schöpfer oder doch vollender classisch geworden. die fülle von
feinen gedanken und treffenden urteilen über tragische kunst und des
dichters aufgabe und macht, die in den Fröschen des Aristophanes bei
jedem neuen lesen neu entzückt, lehrt, dass die grossen dichter wirklich
ein minder verächtliches publicum hatten, als das mit den Xenien oder
der Verhängnisvollen gabel gezüchtigte war. in den gebildeten kreisen
der athenischen gesellschaft würde sich eine der poesie ebenbürtige kritik
entwickelt haben, wenn die gesellschaft nicht durch das nationale elend
niedergezogen worden wäre, und mit dem notwendigen welken der grossen
kunst nicht die wucherblume der rhetorik ins kraut geschossen wäre. feder-
helden wie Isokrates Polykrates Anaximenes hatten ja das erhebende bewusst-
sein, den grossen dichtern weit überlegen zu sein, wie das so leute haben.
und im schatten dieser rhetorik erwuchs was sich damals tragödie nannte,
Aphareus und Karkinos, Astydamas und Theodektes. die echte erbin der
poesie, die wissenschaft, vergass ihrer mutter nicht. Platon hat an der
tragödie gelernt; jene im leben zerstörte attische gesellschaft lebt in
seinen dramatischen schöpfungen fort, und die tragischen reminiscenzen
sind im munde seiner personen lebendig: die Antiope war wenig über
10 jahre alt, als der Gorgias die debatte zwischen politiker und dichter
aufnahm. aber da Platon die alten volkstümlichen ideale bekämpfen musste,
um den neuen und höheren raum zu schaffen, diese alten ideale in der
sage und diese selbst nunmehr vornehmlich in der tragödie verkörpert
war, so ergab sich für ihn die polemik auch gegen das drama, ergaben
sich dieselben sittlichen probleme, wie sie schon in früher sophistenzeit
Glaukon Stesimbrotos Anaximenes Metrodoros im Homer gefunden und
zu lösen versucht hatten. aus diesen meist moralischen anstössen war ja

Geschichte des tragikertextes.
einzelne dramen nicht entbehren konnten, weil die buchmäſsige über-
lieferung nicht genügte, oder auch ein oder das andere stück nur in
bühnenexemplaren erhalten war. auch das ist sicher, daſs sie sich über
die verwilderung des textes durch die schauspieler keinerlei illusionen
gemacht und mit der möglichkeit gerechnet haben, daſs der text unter
deren einwirkung gelitten hätte. wir aber sind auſser diesen allgemeinen
erwägungen lediglich auf die schlüsse angewiesen, die wir aus dem zu-
stande der erhaltenen dramen ziehen, und diese sind glücklicherweise
im ganzen beruhigend.

Aesthetische
kritik.

Es ist überaus peinlich, daſs wir über diese periode so wenig con-
cretes wissen oder ermitteln können, denn ohne frage ist sie für den
text die wichtigste und ist auch das interesse und verständnis für das
drama ein lebendiges gewesen. die tragödie war ja schon zu lebzeiten
ihrer schöpfer oder doch vollender classisch geworden. die fülle von
feinen gedanken und treffenden urteilen über tragische kunst und des
dichters aufgabe und macht, die in den Fröschen des Aristophanes bei
jedem neuen lesen neu entzückt, lehrt, daſs die groſsen dichter wirklich
ein minder verächtliches publicum hatten, als das mit den Xenien oder
der Verhängnisvollen gabel gezüchtigte war. in den gebildeten kreisen
der athenischen gesellschaft würde sich eine der poesie ebenbürtige kritik
entwickelt haben, wenn die gesellschaft nicht durch das nationale elend
niedergezogen worden wäre, und mit dem notwendigen welken der groſsen
kunst nicht die wucherblume der rhetorik ins kraut geschossen wäre. feder-
helden wie Isokrates Polykrates Anaximenes hatten ja das erhebende bewuſst-
sein, den groſsen dichtern weit überlegen zu sein, wie das so leute haben.
und im schatten dieser rhetorik erwuchs was sich damals tragödie nannte,
Aphareus und Karkinos, Astydamas und Theodektes. die echte erbin der
poesie, die wissenschaft, vergaſs ihrer mutter nicht. Platon hat an der
tragödie gelernt; jene im leben zerstörte attische gesellschaft lebt in
seinen dramatischen schöpfungen fort, und die tragischen reminiscenzen
sind im munde seiner personen lebendig: die Antiope war wenig über
10 jahre alt, als der Gorgias die debatte zwischen politiker und dichter
aufnahm. aber da Platon die alten volkstümlichen ideale bekämpfen muſste,
um den neuen und höheren raum zu schaffen, diese alten ideale in der
sage und diese selbst nunmehr vornehmlich in der tragödie verkörpert
war, so ergab sich für ihn die polemik auch gegen das drama, ergaben
sich dieselben sittlichen probleme, wie sie schon in früher sophistenzeit
Glaukon Stesimbrotos Anaximenes Metrodoros im Homer gefunden und
zu lösen versucht hatten. aus diesen meist moralischen anstöſsen war ja

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[132/0152] Geschichte des tragikertextes. einzelne dramen nicht entbehren konnten, weil die buchmäſsige über- lieferung nicht genügte, oder auch ein oder das andere stück nur in bühnenexemplaren erhalten war. auch das ist sicher, daſs sie sich über die verwilderung des textes durch die schauspieler keinerlei illusionen gemacht und mit der möglichkeit gerechnet haben, daſs der text unter deren einwirkung gelitten hätte. wir aber sind auſser diesen allgemeinen erwägungen lediglich auf die schlüsse angewiesen, die wir aus dem zu- stande der erhaltenen dramen ziehen, und diese sind glücklicherweise im ganzen beruhigend. Es ist überaus peinlich, daſs wir über diese periode so wenig con- cretes wissen oder ermitteln können, denn ohne frage ist sie für den text die wichtigste und ist auch das interesse und verständnis für das drama ein lebendiges gewesen. die tragödie war ja schon zu lebzeiten ihrer schöpfer oder doch vollender classisch geworden. die fülle von feinen gedanken und treffenden urteilen über tragische kunst und des dichters aufgabe und macht, die in den Fröschen des Aristophanes bei jedem neuen lesen neu entzückt, lehrt, daſs die groſsen dichter wirklich ein minder verächtliches publicum hatten, als das mit den Xenien oder der Verhängnisvollen gabel gezüchtigte war. in den gebildeten kreisen der athenischen gesellschaft würde sich eine der poesie ebenbürtige kritik entwickelt haben, wenn die gesellschaft nicht durch das nationale elend niedergezogen worden wäre, und mit dem notwendigen welken der groſsen kunst nicht die wucherblume der rhetorik ins kraut geschossen wäre. feder- helden wie Isokrates Polykrates Anaximenes hatten ja das erhebende bewuſst- sein, den groſsen dichtern weit überlegen zu sein, wie das so leute haben. und im schatten dieser rhetorik erwuchs was sich damals tragödie nannte, Aphareus und Karkinos, Astydamas und Theodektes. die echte erbin der poesie, die wissenschaft, vergaſs ihrer mutter nicht. Platon hat an der tragödie gelernt; jene im leben zerstörte attische gesellschaft lebt in seinen dramatischen schöpfungen fort, und die tragischen reminiscenzen sind im munde seiner personen lebendig: die Antiope war wenig über 10 jahre alt, als der Gorgias die debatte zwischen politiker und dichter aufnahm. aber da Platon die alten volkstümlichen ideale bekämpfen muſste, um den neuen und höheren raum zu schaffen, diese alten ideale in der sage und diese selbst nunmehr vornehmlich in der tragödie verkörpert war, so ergab sich für ihn die polemik auch gegen das drama, ergaben sich dieselben sittlichen probleme, wie sie schon in früher sophistenzeit Glaukon Stesimbrotos Anaximenes Metrodoros im Homer gefunden und zu lösen versucht hatten. aus diesen meist moralischen anstöſsen war ja

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 132. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/152>, abgerufen am 22.11.2024.