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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Was ist eine attische tragödie?
sage, die mutter der poesie, lebt ja: und statt im traume hinüberzu-
schweben, haut sich die phantasie mit dem guten schwerte der geschicht-
lichen erkenntnis durch die dornenhecke zu dem schlummernden Dorn-
röschen durch. der weg ist frei: Welcker hat ihn gewiesen. so gewiss
die poesie die muttersprache des menschengeschlechtes ist 60), und deshalb
für jeden von natur verständlich, so gewiss ist die sage die naturform
für des menschengeschlechtes istorie und philosophia, verständich dem
kinde, wie wir noch täglich sehen, und für jeden, der noch nicht zu
vornehm für den spruch ist, werdet wie die kinder.

Die sage -- ich rede allgemein, aber ich denke natürlich an die
griechische, von der ich allein etwas verstehe -- umfasst vor alem die
summe der lebendigen geschichtlichen erinnerung des volkes. das was
der einzelne selbst erlebt hat, was also unmittelbar im gedächtnis lebt,
wird sich stets von ihr absondern, aber diese scheidelinie ist keine feste
und sie verschiebt sich für das volk im ganzen von stunde zu stunde.
nur das lebt wirklich fort, was noch als für die gegenwart beleutsam
empfunden wird. deshalb erhält sich wol an einzelne ungeheure taten
oder verbrechen, an katastrophen von völkern stämmen staaten eine
erinnerung, aber wenn sie nicht eine exemplificatorische bedeutung em-
pfangen und so in die nächste kategorie übertreten, so werden sie in
beziehung gesetzt zu den zuständen der gegenwart; an dieser hingt das
interesse, und das vergangene hat nur wert, in soweit es das gegenwärtige
erklärt, das kommende ahnen lässt. aber weil man sich abmiht, das
gegenwärtige zu verstehen, so setzt sich jede darstellung des zuständ-
lichen in eine geschichte um. denn die homerische zeit beschreibt nicht
bloss den schild des Achilleus durch die erzählung seiner anfertigung:
auch die stammesverhältnisse in einer landschaft, die standesunterschiede
in einer staatlichen gemeinschaft, den einzelnen satz des geltenden rechtes,
die einzelne ceremonie eines gottesdienstes wird nur im werden darge-
stellt. sehr oft ist unentwirrbar, wo die geschichtliche erinnerung auf-
tritt, die paradigmatische construction beginnt. denn auch an der summe
der geschichtlichen erinnerungen übt der mensch sein causalitätsbedürfnis,
wie sie jetzt sagen, besser und antiker gesagt, seinen philosophischen sinn;
man kann auch sagen, er sucht den gott in der geschichte. so tritt in

60) Die moderne poetik bringt es freilich dazu die poesie für 'somtagsstaat
neben der alltagskleidung' zu erklären; für die sphäre, in der sie evangelum (oder
thora) ist, passt vielleicht besser, sonntagsbeilage zum wochenblättchen. aber Homer
und Platon, Herder und Goethe waren keine bildungsphilister und haben nicht für
bildungsphilister gearbeitet. und der liebe gott hat auch nicht bloss sonntags von
9 bis 11 sprechstunde.

Was ist eine attische tragödie?
sage, die mutter der poesie, lebt ja: und statt im traume hinüberzu-
schweben, haut sich die phantasie mit dem guten schwerte der geschicht-
lichen erkenntnis durch die dornenhecke zu dem schlummernden Dorn-
röschen durch. der weg ist frei: Welcker hat ihn gewiesen. so gewiſs
die poesie die muttersprache des menschengeschlechtes ist 60), und deshalb
für jeden von natur verständlich, so gewiſs ist die sage die naturform
für des menschengeschlechtes ἱστορίη und φιλοσοφία, verständich dem
kinde, wie wir noch täglich sehen, und für jeden, der noch nicht zu
vornehm für den spruch ist, werdet wie die kinder.

Die sage — ich rede allgemein, aber ich denke natürlich an die
griechische, von der ich allein etwas verstehe — umfaſst vor alem die
summe der lebendigen geschichtlichen erinnerung des volkes. das was
der einzelne selbst erlebt hat, was also unmittelbar im gedächtnis lebt,
wird sich stets von ihr absondern, aber diese scheidelinie ist keine feste
und sie verschiebt sich für das volk im ganzen von stunde zu stunde.
nur das lebt wirklich fort, was noch als für die gegenwart beleutsam
empfunden wird. deshalb erhält sich wol an einzelne ungeheure taten
oder verbrechen, an katastrophen von völkern stämmen staaten eine
erinnerung, aber wenn sie nicht eine exemplificatorische bedeutung em-
pfangen und so in die nächste kategorie übertreten, so werden sie in
beziehung gesetzt zu den zuständen der gegenwart; an dieser hingt das
interesse, und das vergangene hat nur wert, in soweit es das gegenwärtige
erklärt, das kommende ahnen läſst. aber weil man sich abmiht, das
gegenwärtige zu verstehen, so setzt sich jede darstellung des zuständ-
lichen in eine geschichte um. denn die homerische zeit beschreibt nicht
bloſs den schild des Achilleus durch die erzählung seiner anfertigung:
auch die stammesverhältnisse in einer landschaft, die standesunterschiede
in einer staatlichen gemeinschaft, den einzelnen satz des geltenden rechtes,
die einzelne ceremonie eines gottesdienstes wird nur im werden darge-
stellt. sehr oft ist unentwirrbar, wo die geschichtliche erinnerung auf-
tritt, die paradigmatische construction beginnt. denn auch an der summe
der geschichtlichen erinnerungen übt der mensch sein causalitätsbedürfnis,
wie sie jetzt sagen, besser und antiker gesagt, seinen philosophischen sinn;
man kann auch sagen, er sucht den gott in der geschichte. so tritt in

60) Die moderne poetik bringt es freilich dazu die poesie für ‘somtagsstaat
neben der alltagskleidung’ zu erklären; für die sphäre, in der sie evangelum (oder
thora) ist, paſst vielleicht besser, sonntagsbeilage zum wochenblättchen. aber Homer
und Platon, Herder und Goethe waren keine bildungsphilister und haben nicht für
bildungsphilister gearbeitet. und der liebe gott hat auch nicht bloſs sonntags von
9 bis 11 sprechstunde.
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[96/0116] Was ist eine attische tragödie? sage, die mutter der poesie, lebt ja: und statt im traume hinüberzu- schweben, haut sich die phantasie mit dem guten schwerte der geschicht- lichen erkenntnis durch die dornenhecke zu dem schlummernden Dorn- röschen durch. der weg ist frei: Welcker hat ihn gewiesen. so gewiſs die poesie die muttersprache des menschengeschlechtes ist 60), und deshalb für jeden von natur verständlich, so gewiſs ist die sage die naturform für des menschengeschlechtes ἱστορίη und φιλοσοφία, verständich dem kinde, wie wir noch täglich sehen, und für jeden, der noch nicht zu vornehm für den spruch ist, werdet wie die kinder. Die sage — ich rede allgemein, aber ich denke natürlich an die griechische, von der ich allein etwas verstehe — umfaſst vor alem die summe der lebendigen geschichtlichen erinnerung des volkes. das was der einzelne selbst erlebt hat, was also unmittelbar im gedächtnis lebt, wird sich stets von ihr absondern, aber diese scheidelinie ist keine feste und sie verschiebt sich für das volk im ganzen von stunde zu stunde. nur das lebt wirklich fort, was noch als für die gegenwart beleutsam empfunden wird. deshalb erhält sich wol an einzelne ungeheure taten oder verbrechen, an katastrophen von völkern stämmen staaten eine erinnerung, aber wenn sie nicht eine exemplificatorische bedeutung em- pfangen und so in die nächste kategorie übertreten, so werden sie in beziehung gesetzt zu den zuständen der gegenwart; an dieser hingt das interesse, und das vergangene hat nur wert, in soweit es das gegenwärtige erklärt, das kommende ahnen läſst. aber weil man sich abmiht, das gegenwärtige zu verstehen, so setzt sich jede darstellung des zuständ- lichen in eine geschichte um. denn die homerische zeit beschreibt nicht bloſs den schild des Achilleus durch die erzählung seiner anfertigung: auch die stammesverhältnisse in einer landschaft, die standesunterschiede in einer staatlichen gemeinschaft, den einzelnen satz des geltenden rechtes, die einzelne ceremonie eines gottesdienstes wird nur im werden darge- stellt. sehr oft ist unentwirrbar, wo die geschichtliche erinnerung auf- tritt, die paradigmatische construction beginnt. denn auch an der summe der geschichtlichen erinnerungen übt der mensch sein causalitätsbedürfnis, wie sie jetzt sagen, besser und antiker gesagt, seinen philosophischen sinn; man kann auch sagen, er sucht den gott in der geschichte. so tritt in 60) Die moderne poetik bringt es freilich dazu die poesie für ‘somtagsstaat neben der alltagskleidung’ zu erklären; für die sphäre, in der sie evangelum (oder thora) ist, paſst vielleicht besser, sonntagsbeilage zum wochenblättchen. aber Homer und Platon, Herder und Goethe waren keine bildungsphilister und haben nicht für bildungsphilister gearbeitet. und der liebe gott hat auch nicht bloſs sonntags von 9 bis 11 sprechstunde.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 96. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/116>, abgerufen am 26.11.2024.