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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Was ist eine attische tragödie?
aber auch als eine jeder inneren berechtigung entbehrende. wir vermögen
die versuche, diese fessel zu brechen 55) oder zu lockern eben so wenig
zu verfolgen, wie wir das einzelne über die art kennen, wie sie sich ge-
knüpft hat. ganz im allgemeinen aber ist ihre entstehung durchaus nicht
befremdend, und was im nomos Dionusiakos stand war gesetz und her-
kommen zugleich, hielt also fest und war nicht durch individuelle willkür
oder bessere einsicht zu beseitigen.

Die vorführung des chores ward durch die einführung des sprechers
nicht geändert. auch jetzt noch konnten diese tänze so gut wie alle
übrigen auf der runden orchestra vor sich gehen, die das volk im kreise
umstand. auch die zahl der tänzer wird einfach dieselbe gewesen sein,
mochten sie als satyrn oder ohne verkleidung auftreten. dass freilich zur
zeit der sängergilden dafür eine feste norm bestanden hätte, kann man
nicht behaupten. notwendig aber trat dieses ein, als die bürgerschaft die
chöre stellte, und es ist einleuchtend, dass damals wirklich für tragödie
und dithyrambos dieselbe zahl, 50, bewilligt ward 56). diese konnte der
dichter verwenden wie er mochte. als sehr bald die verteilung in vier
chöre eintrat, ergaben sich 12 für jeden, wobei dann die beiden über-
schüssigen untergebracht sein werden, wie es eben gieng. eine erhöhung
auf 60, also 4 x 15, ist bei der definitiven ordnung des dionysischen ge-
setzes um 465 eingetreten. es ist übrigens durchaus nicht ohne weiteres
anzunehmen, dass die sänger nur in einem der chöre auftraten. in den
Hiketiden des Aischylos besteht der chor aus den Danaostöchtern und
ihrem gefolge, also, wie wir zu rechnen durch das stück selbst veranlasst
werden, aus 50 + x. es ist eine zu starke zumutung sich diese zahl
durch 12 tänzer vorstellen zu lassen, zumal es ja in des dichters freiheit
lag, die dienerinnen wenigstens fort zu lassen. nichts hindert uns, den
dichter verständig verfahrend zu denken, und also einen weit zahlreicheren
chor anzunehmen.

55) Dahin gehört die notiz bei Suidas s. v. Sophokles, kai autos erxe tou drama
pros drama agonizesthai alla me tetralogian. ob es richtig ist, dass Sophokles
so die sitte des vierten jahrhunderts (für die palaia tragodia) anticipirt hat, können
wir nicht wissen. was die notiz will ist klar, so oft sie auch misdeutet ist. der jüngste
versuch (Comment. Ribb. 205) würde unterblieben sein, wenn bedacht wäre, dass
Euripides, Philokles, Meletos inhaltlich zusammenhängende tetralogieen gedichtet
haben. es hat viel geschadet, dass man eine solche vereinzelte angabe und die der
dichterwillkür nicht dem gesetze angehörige tetralogische einheit als grundsteine für
die geschichte der ältesten tragödie benutzt hat.
56) Man wird das auch im altertum gewusst haben; es ist aber nur eine ganz
verwirrte reminiscenz davon bei Pollux IV 110 geblieben.

Was ist eine attische tragödie?
aber auch als eine jeder inneren berechtigung entbehrende. wir vermögen
die versuche, diese fessel zu brechen 55) oder zu lockern eben so wenig
zu verfolgen, wie wir das einzelne über die art kennen, wie sie sich ge-
knüpft hat. ganz im allgemeinen aber ist ihre entstehung durchaus nicht
befremdend, und was im νόμος Διονυσιακός stand war gesetz und her-
kommen zugleich, hielt also fest und war nicht durch individuelle willkür
oder bessere einsicht zu beseitigen.

Die vorführung des chores ward durch die einführung des sprechers
nicht geändert. auch jetzt noch konnten diese tänze so gut wie alle
übrigen auf der runden orchestra vor sich gehen, die das volk im kreise
umstand. auch die zahl der tänzer wird einfach dieselbe gewesen sein,
mochten sie als satyrn oder ohne verkleidung auftreten. daſs freilich zur
zeit der sängergilden dafür eine feste norm bestanden hätte, kann man
nicht behaupten. notwendig aber trat dieses ein, als die bürgerschaft die
chöre stellte, und es ist einleuchtend, daſs damals wirklich für tragödie
und dithyrambos dieselbe zahl, 50, bewilligt ward 56). diese konnte der
dichter verwenden wie er mochte. als sehr bald die verteilung in vier
chöre eintrat, ergaben sich 12 für jeden, wobei dann die beiden über-
schüssigen untergebracht sein werden, wie es eben gieng. eine erhöhung
auf 60, also 4 × 15, ist bei der definitiven ordnung des dionysischen ge-
setzes um 465 eingetreten. es ist übrigens durchaus nicht ohne weiteres
anzunehmen, daſs die sänger nur in einem der chöre auftraten. in den
Hiketiden des Aischylos besteht der chor aus den Danaostöchtern und
ihrem gefolge, also, wie wir zu rechnen durch das stück selbst veranlaſst
werden, aus 50 + x. es ist eine zu starke zumutung sich diese zahl
durch 12 tänzer vorstellen zu lassen, zumal es ja in des dichters freiheit
lag, die dienerinnen wenigstens fort zu lassen. nichts hindert uns, den
dichter verständig verfahrend zu denken, und also einen weit zahlreicheren
chor anzunehmen.

55) Dahin gehört die notiz bei Suidas s. v. Σοφοκλῆς, καὶ αὐτὸς ἦρξε τοῦ δρᾶμα
πρὸς δρᾶμα ἀγωνίζεσϑαι ἀλλὰ μὴ τετραλογίαν. ob es richtig ist, daſs Sophokles
so die sitte des vierten jahrhunderts (für die παλαιὰ τραγῳδία) anticipirt hat, können
wir nicht wissen. was die notiz will ist klar, so oft sie auch misdeutet ist. der jüngste
versuch (Comment. Ribb. 205) würde unterblieben sein, wenn bedacht wäre, daſs
Euripides, Philokles, Meletos inhaltlich zusammenhängende tetralogieen gedichtet
haben. es hat viel geschadet, daſs man eine solche vereinzelte angabe und die der
dichterwillkür nicht dem gesetze angehörige tetralogische einheit als grundsteine für
die geschichte der ältesten tragödie benutzt hat.
56) Man wird das auch im altertum gewuſst haben; es ist aber nur eine ganz
verwirrte reminiscenz davon bei Pollux IV 110 geblieben.
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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 90. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/110>, abgerufen am 26.11.2024.