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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Was ist eine attische tragödie?

Hier greift ein bedeutendes ergebnis der monumentalen forschung
ein 44), das auf den ersten anblick freilich nur einen vollkommenen wider-
spruch zu constatiren scheint. der satyr, den Aischylos einen bock ge-
nannt hat, ist in seiner äusseren erscheinung keiner gewesen. die aus
der spätgriechischen und römischen kunst uns so sehr geläufigen satyrn,
die in der bildung der ohren, des halses, oft auch der nase, und durch
das schwänzchen ihre bocksnatur offenbaren, hat das alte Athen nicht
gekannt. und doch hat jeder, der die attischen gemälde des 6. und 5.
jahrhunderts auch nur flüchtig kennt, die phantasie voll von dem köstlich
frechen treiben der attischen satyrn, die das gefolge des Dionysos bilden.
wir besitzen ja jetzt sogar die reste des giebelfeldes von einem attischen
Dionysostempel, auf welchen diese gesellen dargestellt sind. 45) das stammt
zwar nicht von dem uralten heiligtume am kelterplatz, in welchem das
beilager der Basilinna mit dem gotte vollzogen ward, sondern von dem
des Dionysos Eleuthereus am südostfusse der burg: es ist aber immerhin
etwa aus solonischer zeit und älter als das satyrspiel. alle diese attischen
satyrn haben mit den böcken nicht das mindeste zu schaffen; sie sind
zwar auch halbtiere, aber das tierische in ihnen stammt vom pferde. es
ist auch ganz klar, dass diese conception der volksphantasie ionisch ist,
und auf den inseln und in Asien (wo die vermehrung des materials zu
wünschen und sicher zu erwarten ist) ebenso gegolten hat. und der name
dieser wesen ist ebenfalls unzweifelhaft, es sind Silenoi: ein unterschied
zwischen silenoi und saturoi ist für die alte kunst derselben gegend
nicht vorhanden. also die ionischen waldteufel stammen vom gaule; es
sind die theres, vettern der pheres, der aeolischen, thessalischen wald-
teufel, die auch in alle poesie gedrungen sind, wie die aeolische metrik
und sprache. auch diese stammen vom gaule, die Kentauroi, und sind
kinder desselben geistes. so haben wir also ein spiel, das bocksspiel
heisst, aber von halbgäulen aufgeführt wird. mit andern worten, hier
hat eine übertragung stattgefunden. nur der name und das bocksfell,
welches der pferdedämon trägt 46), erinnert an die alte bocksnatur; es ist

44) Furtwängler in den Annali dell' Instituto 1877 und im Berliner Winkel-
mannsprogramm 1880 'satyr aus Pergamon'.
45) Mitteilungen des arch. Inst. Athen. XI 78.
46) Im Kyklops 80 klagt der chor, dass er bei dem scheusal ausharren muss
sun tade tragou khlaina melea: so wenig war dem dichter die bedeutung der con-
ventionellen tracht gegenwärtig, dass er sie als etwas besonderes motivirte. auf
der bühne ist der alte satyr der vater der andern, und er kann nicht aus dem chor-
führer hervorgegangen sein, denn ein chorführer ist ja neben ihm vorhanden. er
heisst Saturon o geraitatos 100, wird meist nur geron genannt, Silene aber auch
Was ist eine attische tragödie?

Hier greift ein bedeutendes ergebnis der monumentalen forschung
ein 44), das auf den ersten anblick freilich nur einen vollkommenen wider-
spruch zu constatiren scheint. der satyr, den Aischylos einen bock ge-
nannt hat, ist in seiner äuſseren erscheinung keiner gewesen. die aus
der spätgriechischen und römischen kunst uns so sehr geläufigen satyrn,
die in der bildung der ohren, des halses, oft auch der nase, und durch
das schwänzchen ihre bocksnatur offenbaren, hat das alte Athen nicht
gekannt. und doch hat jeder, der die attischen gemälde des 6. und 5.
jahrhunderts auch nur flüchtig kennt, die phantasie voll von dem köstlich
frechen treiben der attischen satyrn, die das gefolge des Dionysos bilden.
wir besitzen ja jetzt sogar die reste des giebelfeldes von einem attischen
Dionysostempel, auf welchen diese gesellen dargestellt sind. 45) das stammt
zwar nicht von dem uralten heiligtume am kelterplatz, in welchem das
beilager der Basilinna mit dem gotte vollzogen ward, sondern von dem
des Dionysos Eleuthereus am südostfuſse der burg: es ist aber immerhin
etwa aus solonischer zeit und älter als das satyrspiel. alle diese attischen
satyrn haben mit den böcken nicht das mindeste zu schaffen; sie sind
zwar auch halbtiere, aber das tierische in ihnen stammt vom pferde. es
ist auch ganz klar, daſs diese conception der volksphantasie ionisch ist,
und auf den inseln und in Asien (wo die vermehrung des materials zu
wünschen und sicher zu erwarten ist) ebenso gegolten hat. und der name
dieser wesen ist ebenfalls unzweifelhaft, es sind Σιληνοί: ein unterschied
zwischen σιληνοἰ und σάτυροι ist für die alte kunst derselben gegend
nicht vorhanden. also die ionischen waldteufel stammen vom gaule; es
sind die ϑῆρες, vettern der φῆρες, der aeolischen, thessalischen wald-
teufel, die auch in alle poesie gedrungen sind, wie die aeolische metrik
und sprache. auch diese stammen vom gaule, die Κένταυροι, und sind
kinder desselben geistes. so haben wir also ein spiel, das bocksspiel
heiſst, aber von halbgäulen aufgeführt wird. mit andern worten, hier
hat eine übertragung stattgefunden. nur der name und das bocksfell,
welches der pferdedämon trägt 46), erinnert an die alte bocksnatur; es ist

44) Furtwängler in den Annali dell’ Instituto 1877 und im Berliner Winkel-
mannsprogramm 1880 ‘satyr aus Pergamon’.
45) Mitteilungen des arch. Inst. Athen. XI 78.
46) Im Kyklops 80 klagt der chor, daſs er bei dem scheusal ausharren muſs
σὺν τᾷδε τράγου χλαίνᾳ μελέᾳ: so wenig war dem dichter die bedeutung der con-
ventionellen tracht gegenwärtig, daſs er sie als etwas besonderes motivirte. auf
der bühne ist der alte satyr der vater der andern, und er kann nicht aus dem chor-
führer hervorgegangen sein, denn ein chorführer ist ja neben ihm vorhanden. er
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[82/0102] Was ist eine attische tragödie? Hier greift ein bedeutendes ergebnis der monumentalen forschung ein 44), das auf den ersten anblick freilich nur einen vollkommenen wider- spruch zu constatiren scheint. der satyr, den Aischylos einen bock ge- nannt hat, ist in seiner äuſseren erscheinung keiner gewesen. die aus der spätgriechischen und römischen kunst uns so sehr geläufigen satyrn, die in der bildung der ohren, des halses, oft auch der nase, und durch das schwänzchen ihre bocksnatur offenbaren, hat das alte Athen nicht gekannt. und doch hat jeder, der die attischen gemälde des 6. und 5. jahrhunderts auch nur flüchtig kennt, die phantasie voll von dem köstlich frechen treiben der attischen satyrn, die das gefolge des Dionysos bilden. wir besitzen ja jetzt sogar die reste des giebelfeldes von einem attischen Dionysostempel, auf welchen diese gesellen dargestellt sind. 45) das stammt zwar nicht von dem uralten heiligtume am kelterplatz, in welchem das beilager der Basilinna mit dem gotte vollzogen ward, sondern von dem des Dionysos Eleuthereus am südostfuſse der burg: es ist aber immerhin etwa aus solonischer zeit und älter als das satyrspiel. alle diese attischen satyrn haben mit den böcken nicht das mindeste zu schaffen; sie sind zwar auch halbtiere, aber das tierische in ihnen stammt vom pferde. es ist auch ganz klar, daſs diese conception der volksphantasie ionisch ist, und auf den inseln und in Asien (wo die vermehrung des materials zu wünschen und sicher zu erwarten ist) ebenso gegolten hat. und der name dieser wesen ist ebenfalls unzweifelhaft, es sind Σιληνοί: ein unterschied zwischen σιληνοἰ und σάτυροι ist für die alte kunst derselben gegend nicht vorhanden. also die ionischen waldteufel stammen vom gaule; es sind die ϑῆρες, vettern der φῆρες, der aeolischen, thessalischen wald- teufel, die auch in alle poesie gedrungen sind, wie die aeolische metrik und sprache. auch diese stammen vom gaule, die Κένταυροι, und sind kinder desselben geistes. so haben wir also ein spiel, das bocksspiel heiſst, aber von halbgäulen aufgeführt wird. mit andern worten, hier hat eine übertragung stattgefunden. nur der name und das bocksfell, welches der pferdedämon trägt 46), erinnert an die alte bocksnatur; es ist 44) Furtwängler in den Annali dell’ Instituto 1877 und im Berliner Winkel- mannsprogramm 1880 ‘satyr aus Pergamon’. 45) Mitteilungen des arch. Inst. Athen. XI 78. 46) Im Kyklops 80 klagt der chor, daſs er bei dem scheusal ausharren muſs σὺν τᾷδε τράγου χλαίνᾳ μελέᾳ: so wenig war dem dichter die bedeutung der con- ventionellen tracht gegenwärtig, daſs er sie als etwas besonderes motivirte. auf der bühne ist der alte satyr der vater der andern, und er kann nicht aus dem chor- führer hervorgegangen sein, denn ein chorführer ist ja neben ihm vorhanden. er heiſst Σατύρων ὁ γεραίτατος 100, wird meist nur γέρων genannt, Σιληνέ aber auch

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 82. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/102>, abgerufen am 27.04.2024.