Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893.

Bild:
<< vorherige Seite

II. 2. Von Kekrops bis Solon.
kaum vermeiden, in die stadt zu ziehen, um seines amtes zu walten.30)
aber die landwirtschaft war doch die grundlage der gesammten wirt-
schaft, den reichtum bildete wesentlich der grundbesitz, auch die vor-
nehmen wohnten gern auf dem lande. somit bedurfte man einer orga-
nisation localer art, zunächst für die aushebung, dann für die frohnden,
die steuern und den dienst mindestens der flotte. die gentilicische
ordnung der phylen und trittyen reichte dazu nicht hin, und so hat
man sehr früh, wol noch im achten jahrhundert, die 48 kreise geschaffen
und an die spitze eines jeden bereits eine collegialische behörde gestellt,
die gesammtheit der kreise aber nicht mehr unter die vier phylenkönige,
sondern unter die kreishauptleute, die naukraron prutaneis. der name
naukraroi sammt seinen ableitungen lehrt, dass die flotte den anstoss zu
dieser gründung gegeben hat: so hat die see schon von anbeginn Athen zur
demokratie getrieben. wir hören nicht viel von den leistungen jener flotte,
aber die Dipylonvasen zeigen uns ihre schiffe, sogar dieren, im kampfe,
und der aufschwung des attischen handels und die verbindung mit Delos
sind nicht ohne sie denkbar. auch von den prytanen der naukraren
und von diesen selbst wissen wir allzuwenig: aber ihre existenz genügt
um zu zeigen, dass sich neben den patricischen behörden hier eine ganz
anderer art erhob, der vorläufer der gemeindeordnung und gemeinde-
vertretung des kleisthenischen staates. die drakontische verfassung führt
auch bereits einen rat ein, gesondert von dem adelsrate des Areshügels,
den beirat der prytanen. mag nun Drakon diese locale vertretung erst
geschaffen haben, mag sie älter sein: in diesem rate lag die gefahr, dass
eine völlige sociale umwälzung, wie sie in Megara vor Theognis, in
Ionien an manchen orten vorgekommen ist, den herrschenden stand zu
boden würfe. denn sobald der flottendienst eingeführt war, liess sich
die wehrhaftigkeit in Drakons sinne, das opla parekhesthai, als erfor-
dernis der politischen rechte nicht mehr auf die dauer halten. in den
48 naukrarien liess sich die herrschaft der wenigen reichsten nicht so
zur geltung bringen wie in der wahlversammlung des ganzen demos.

30) Der bürger heisst in der älteren sprache astos, in der jüngeren polites,
und der spätere Hellene hört in ersterem die stadt, in diesem den staat. aber es
wäre ein arger irrtum, wollte man das auf die alte zeit übertragen, denn polites
ist der 'bürger' freilich, aber von der 'burg' benannt. höchstens ein engerer lo-
caler begriff liegt ihm zu grunde. Polites ist ein alter eigenname; es führt ihn der
Priamossohn, der den wachtdienst übt, im B als späher auf einem hügel. im O späht
Kassandra von einem turme. es leuchtet ein, dass der eigenname nur den 'burgwart',
nicht den 'staatsbürger' angehen kann.

II. 2. Von Kekrops bis Solon.
kaum vermeiden, in die stadt zu ziehen, um seines amtes zu walten.30)
aber die landwirtschaft war doch die grundlage der gesammten wirt-
schaft, den reichtum bildete wesentlich der grundbesitz, auch die vor-
nehmen wohnten gern auf dem lande. somit bedurfte man einer orga-
nisation localer art, zunächst für die aushebung, dann für die frohnden,
die steuern und den dienst mindestens der flotte. die gentilicische
ordnung der phylen und trittyen reichte dazu nicht hin, und so hat
man sehr früh, wol noch im achten jahrhundert, die 48 kreise geschaffen
und an die spitze eines jeden bereits eine collegialische behörde gestellt,
die gesammtheit der kreise aber nicht mehr unter die vier phylenkönige,
sondern unter die kreishauptleute, die ναυκϱάϱων πϱυτάνεις. der name
ναύκϱαϱοι sammt seinen ableitungen lehrt, daſs die flotte den anstoſs zu
dieser gründung gegeben hat: so hat die see schon von anbeginn Athen zur
demokratie getrieben. wir hören nicht viel von den leistungen jener flotte,
aber die Dipylonvasen zeigen uns ihre schiffe, sogar dieren, im kampfe,
und der aufschwung des attischen handels und die verbindung mit Delos
sind nicht ohne sie denkbar. auch von den prytanen der naukraren
und von diesen selbst wissen wir allzuwenig: aber ihre existenz genügt
um zu zeigen, daſs sich neben den patricischen behörden hier eine ganz
anderer art erhob, der vorläufer der gemeindeordnung und gemeinde-
vertretung des kleisthenischen staates. die drakontische verfassung führt
auch bereits einen rat ein, gesondert von dem adelsrate des Areshügels,
den beirat der prytanen. mag nun Drakon diese locale vertretung erst
geschaffen haben, mag sie älter sein: in diesem rate lag die gefahr, daſs
eine völlige sociale umwälzung, wie sie in Megara vor Theognis, in
Ionien an manchen orten vorgekommen ist, den herrschenden stand zu
boden würfe. denn sobald der flottendienst eingeführt war, lieſs sich
die wehrhaftigkeit in Drakons sinne, das ὅπλα παϱέχεσϑαι, als erfor-
dernis der politischen rechte nicht mehr auf die dauer halten. in den
48 naukrarien lieſs sich die herrschaft der wenigen reichsten nicht so
zur geltung bringen wie in der wahlversammlung des ganzen demos.

30) Der bürger heiſst in der älteren sprache ἀστός, in der jüngeren πολίτης,
und der spätere Hellene hört in ersterem die stadt, in diesem den staat. aber es
wäre ein arger irrtum, wollte man das auf die alte zeit übertragen, denn πολίτης
ist der ‘bürger’ freilich, aber von der ‘burg’ benannt. höchstens ein engerer lo-
caler begriff liegt ihm zu grunde. Polites ist ein alter eigenname; es führt ihn der
Priamossohn, der den wachtdienst übt, im B als späher auf einem hügel. im Ω späht
Kassandra von einem turme. es leuchtet ein, daſs der eigenname nur den ‘burgwart’,
nicht den ‘staatsbürger’ angehen kann.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0064" n="54"/><fw place="top" type="header">II. 2. Von Kekrops bis Solon.</fw><lb/>
kaum vermeiden, in die stadt zu ziehen, um seines amtes zu walten.<note place="foot" n="30)">Der bürger hei&#x017F;st in der älteren sprache &#x1F00;&#x03C3;&#x03C4;&#x03CC;&#x03C2;, in der jüngeren &#x03C0;&#x03BF;&#x03BB;&#x03AF;&#x03C4;&#x03B7;&#x03C2;,<lb/>
und der spätere Hellene hört in ersterem die stadt, in diesem den staat. aber es<lb/>
wäre ein arger irrtum, wollte man das auf die alte zeit übertragen, denn &#x03C0;&#x03BF;&#x03BB;&#x03AF;&#x03C4;&#x03B7;&#x03C2;<lb/>
ist der &#x2018;bürger&#x2019; freilich, aber von der &#x2018;burg&#x2019; benannt. höchstens ein engerer lo-<lb/>
caler begriff liegt ihm zu grunde. Polites ist ein alter eigenname; es führt ihn der<lb/>
Priamossohn, der den wachtdienst übt, im <hi rendition="#i">B</hi> als späher auf einem hügel. im &#x03A9; späht<lb/>
Kassandra von einem turme. es leuchtet ein, da&#x017F;s der eigenname nur den &#x2018;burgwart&#x2019;,<lb/>
nicht den &#x2018;staatsbürger&#x2019; angehen kann.</note><lb/>
aber die landwirtschaft war doch die grundlage der gesammten wirt-<lb/>
schaft, den reichtum bildete wesentlich der grundbesitz, auch die vor-<lb/>
nehmen wohnten gern auf dem lande. somit bedurfte man einer orga-<lb/>
nisation localer art, zunächst für die aushebung, dann für die frohnden,<lb/>
die steuern und den dienst mindestens der flotte. die gentilicische<lb/>
ordnung der phylen und trittyen reichte dazu nicht hin, und so hat<lb/>
man sehr früh, wol noch im achten jahrhundert, die 48 kreise geschaffen<lb/>
und an die spitze eines jeden bereits eine collegialische behörde gestellt,<lb/>
die gesammtheit der kreise aber nicht mehr unter die vier phylenkönige,<lb/>
sondern unter die kreishauptleute, die &#x03BD;&#x03B1;&#x03C5;&#x03BA;&#x03F1;&#x03AC;&#x03F1;&#x03C9;&#x03BD; &#x03C0;&#x03F1;&#x03C5;&#x03C4;&#x03AC;&#x03BD;&#x03B5;&#x03B9;&#x03C2;. der name<lb/>
&#x03BD;&#x03B1;&#x03CD;&#x03BA;&#x03F1;&#x03B1;&#x03F1;&#x03BF;&#x03B9; sammt seinen ableitungen lehrt, da&#x017F;s die flotte den ansto&#x017F;s zu<lb/>
dieser gründung gegeben hat: so hat die see schon von anbeginn Athen zur<lb/>
demokratie getrieben. wir hören nicht viel von den leistungen jener flotte,<lb/>
aber die Dipylonvasen zeigen uns ihre schiffe, sogar dieren, im kampfe,<lb/>
und der aufschwung des attischen handels und die verbindung mit Delos<lb/>
sind nicht ohne sie denkbar. auch von den prytanen der naukraren<lb/>
und von diesen selbst wissen wir allzuwenig: aber ihre existenz genügt<lb/>
um zu zeigen, da&#x017F;s sich neben den patricischen behörden hier eine ganz<lb/>
anderer art erhob, der vorläufer der gemeindeordnung und gemeinde-<lb/>
vertretung des kleisthenischen staates. die drakontische verfassung führt<lb/>
auch bereits einen rat ein, gesondert von dem adelsrate des Areshügels,<lb/>
den beirat der prytanen. mag nun Drakon diese locale vertretung erst<lb/>
geschaffen haben, mag sie älter sein: in diesem rate lag die gefahr, da&#x017F;s<lb/>
eine völlige sociale umwälzung, wie sie in Megara vor Theognis, in<lb/>
Ionien an manchen orten vorgekommen ist, den herrschenden stand zu<lb/>
boden würfe. denn sobald der flottendienst eingeführt war, lie&#x017F;s sich<lb/>
die wehrhaftigkeit in Drakons sinne, das &#x1F45;&#x03C0;&#x03BB;&#x03B1; &#x03C0;&#x03B1;&#x03F1;&#x03AD;&#x03C7;&#x03B5;&#x03C3;&#x03D1;&#x03B1;&#x03B9;, als erfor-<lb/>
dernis der politischen rechte nicht mehr auf die dauer halten. in den<lb/>
48 naukrarien lie&#x017F;s sich die herrschaft der wenigen reichsten nicht so<lb/>
zur geltung bringen wie in der wahlversammlung des ganzen demos.<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[54/0064] II. 2. Von Kekrops bis Solon. kaum vermeiden, in die stadt zu ziehen, um seines amtes zu walten. 30) aber die landwirtschaft war doch die grundlage der gesammten wirt- schaft, den reichtum bildete wesentlich der grundbesitz, auch die vor- nehmen wohnten gern auf dem lande. somit bedurfte man einer orga- nisation localer art, zunächst für die aushebung, dann für die frohnden, die steuern und den dienst mindestens der flotte. die gentilicische ordnung der phylen und trittyen reichte dazu nicht hin, und so hat man sehr früh, wol noch im achten jahrhundert, die 48 kreise geschaffen und an die spitze eines jeden bereits eine collegialische behörde gestellt, die gesammtheit der kreise aber nicht mehr unter die vier phylenkönige, sondern unter die kreishauptleute, die ναυκϱάϱων πϱυτάνεις. der name ναύκϱαϱοι sammt seinen ableitungen lehrt, daſs die flotte den anstoſs zu dieser gründung gegeben hat: so hat die see schon von anbeginn Athen zur demokratie getrieben. wir hören nicht viel von den leistungen jener flotte, aber die Dipylonvasen zeigen uns ihre schiffe, sogar dieren, im kampfe, und der aufschwung des attischen handels und die verbindung mit Delos sind nicht ohne sie denkbar. auch von den prytanen der naukraren und von diesen selbst wissen wir allzuwenig: aber ihre existenz genügt um zu zeigen, daſs sich neben den patricischen behörden hier eine ganz anderer art erhob, der vorläufer der gemeindeordnung und gemeinde- vertretung des kleisthenischen staates. die drakontische verfassung führt auch bereits einen rat ein, gesondert von dem adelsrate des Areshügels, den beirat der prytanen. mag nun Drakon diese locale vertretung erst geschaffen haben, mag sie älter sein: in diesem rate lag die gefahr, daſs eine völlige sociale umwälzung, wie sie in Megara vor Theognis, in Ionien an manchen orten vorgekommen ist, den herrschenden stand zu boden würfe. denn sobald der flottendienst eingeführt war, lieſs sich die wehrhaftigkeit in Drakons sinne, das ὅπλα παϱέχεσϑαι, als erfor- dernis der politischen rechte nicht mehr auf die dauer halten. in den 48 naukrarien lieſs sich die herrschaft der wenigen reichsten nicht so zur geltung bringen wie in der wahlversammlung des ganzen demos. 30) Der bürger heiſst in der älteren sprache ἀστός, in der jüngeren πολίτης, und der spätere Hellene hört in ersterem die stadt, in diesem den staat. aber es wäre ein arger irrtum, wollte man das auf die alte zeit übertragen, denn πολίτης ist der ‘bürger’ freilich, aber von der ‘burg’ benannt. höchstens ein engerer lo- caler begriff liegt ihm zu grunde. Polites ist ein alter eigenname; es führt ihn der Priamossohn, der den wachtdienst übt, im B als späher auf einem hügel. im Ω späht Kassandra von einem turme. es leuchtet ein, daſs der eigenname nur den ‘burgwart’, nicht den ‘staatsbürger’ angehen kann.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893/64
Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893, S. 54. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893/64>, abgerufen am 25.11.2024.