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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893.

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Die burg der Kekroper. das volk Athenas.

Die burg von Athen ist ihrer anlage und bauart nach ein erzeugnis
derselben periode wie die von Tiryns, Orchomenos, Arne und viele
andere, in Attika namentlich Eleusis und Thorikos. ihre herren haben
die kekropische ebene beherrscht; das ist nicht wenig für jene zeit der
vielen kleinen burgherren. aber wirkliche staaten oder städte kannte
jene zeit noch nicht. jenseits der niederung im südwesten, die damals
entweder meer oder lagune war (das alipedon), erhob sich schon eine
andere solche burg, Munichia, und an den abhängen des Parnes und
Brilettos werden sie nicht gefehlt haben. es hat der zeit und der arbeit
und der kämpfe vieler generationen bedurft, bis sich über den trümmern
dieser burgen die stadt Athen, und über den kleinen politischen ein-
heiten der staat der Athener erhob. auch diese zeiten und kämpfe sind
verschollen, und auch von ihnen ist nur im gedächtnisse geblieben, dass die
continuität nie abgerissen ist, während überall ringsumher, in Boeotien
und Euboia, Megara und Aigina, und im ganzen Peloponnes fremde
eroberer den geschichtlichen fortschritt bringen. in langem ruhigem
stillem wachstum ist das edelste reis des hellenischen gartens auf dem
felsen Athenas gediehen.

In diesen zeiten des werdens ist das königtum oder vielmehr dieDas volk
Athenas.

monarchie zu grunde gegangen und die souveränetät der gemeinde (demos)
entstanden. in die gemeinde aber sind die herrschaften alle aufgegangen,
die vorher neben einander in Attika bestanden, auch die der burg, und
sie am entschiedensten, denn sie hat sogar ihren namen eingebüsst. sie
heisst nun wie die gemeinde; die gemeinde aber ist die der 'Athena-
hefohlenen', und stadt und burg heisst nur nach der hohen himmels-
göttin, die ganz eigentlich in das alte fürstenschloss eingezogen ist, die
wirkliche nachfolgerin der alten könige. Athenaios ist nicht anders
gebildet als Ekataios Dionusios, und nur die gewohnheit, darin eine
ortsbezeichnung zu hören, lässt die eminente bedeutung der tatsache
übersehen, dass die 'zugehörigkeit zu Athena' zugleich die herkunft aus
Athen bezeichnet. nur Platon mit seinem gefühle für die religion seiner
väter empfindet Athenaios wegen des göttlichen namens als eine ehrende
bezeichnung.2) dem namen der bürgerschaft entspricht der der stadt,

2) Ges. I 626d, wo er den anonymen Athenaios einführt, der eben dadurch als
typus charakterisirt werden soll, dass er 'verdient Athenaios zu heissen', dass
Athenas geist auf ihm ruht. sehr hübsch ist es, wie hundert jahre später daraus
gemacht ist, es gäbe in Athen zwei sorten einwohner, die Athenaioi, die dem ruhme
des alten namens entsprächen, und die Attikoi, die alle übeln eigenschaften hätten,
die man den Athenern nachsagte (Herakleides der Kritiker 4). das land hiess bei
3*
Die burg der Kekroper. das volk Athenas.

Die burg von Athen ist ihrer anlage und bauart nach ein erzeugnis
derselben periode wie die von Tiryns, Orchomenos, Arne und viele
andere, in Attika namentlich Eleusis und Thorikos. ihre herren haben
die kekropische ebene beherrscht; das ist nicht wenig für jene zeit der
vielen kleinen burgherren. aber wirkliche staaten oder städte kannte
jene zeit noch nicht. jenseits der niederung im südwesten, die damals
entweder meer oder lagune war (das ἁλίπεδον), erhob sich schon eine
andere solche burg, Munichia, und an den abhängen des Parnes und
Brilettos werden sie nicht gefehlt haben. es hat der zeit und der arbeit
und der kämpfe vieler generationen bedurft, bis sich über den trümmern
dieser burgen die stadt Athen, und über den kleinen politischen ein-
heiten der staat der Athener erhob. auch diese zeiten und kämpfe sind
verschollen, und auch von ihnen ist nur im gedächtnisse geblieben, daſs die
continuität nie abgerissen ist, während überall ringsumher, in Boeotien
und Euboia, Megara und Aigina, und im ganzen Peloponnes fremde
eroberer den geschichtlichen fortschritt bringen. in langem ruhigem
stillem wachstum ist das edelste reis des hellenischen gartens auf dem
felsen Athenas gediehen.

In diesen zeiten des werdens ist das königtum oder vielmehr dieDas volk
Athenas.

monarchie zu grunde gegangen und die souveränetät der gemeinde (δῆμος)
entstanden. in die gemeinde aber sind die herrschaften alle aufgegangen,
die vorher neben einander in Attika bestanden, auch die der burg, und
sie am entschiedensten, denn sie hat sogar ihren namen eingebüſst. sie
heiſst nun wie die gemeinde; die gemeinde aber ist die der ‘Athena-
hefohlenen’, und stadt und burg heiſst nur nach der hohen himmels-
göttin, die ganz eigentlich in das alte fürstenschloſs eingezogen ist, die
wirkliche nachfolgerin der alten könige. Ἀϑηναῖος ist nicht anders
gebildet als Ἑκαταῖος Διονύσιος, und nur die gewohnheit, darin eine
ortsbezeichnung zu hören, läſst die eminente bedeutung der tatsache
übersehen, daſs die ‘zugehörigkeit zu Athena’ zugleich die herkunft aus
Athen bezeichnet. nur Platon mit seinem gefühle für die religion seiner
väter empfindet Ἀϑηναῖος wegen des göttlichen namens als eine ehrende
bezeichnung.2) dem namen der bürgerschaft entspricht der der stadt,

2) Ges. I 626d, wo er den anonymen Ἀϑηναῖος einführt, der eben dadurch als
typus charakterisirt werden soll, daſs er ‘verdient Ἀϑηναῖος zu heiſsen’, daſs
Athenas geist auf ihm ruht. sehr hübsch ist es, wie hundert jahre später daraus
gemacht ist, es gäbe in Athen zwei sorten einwohner, die Ἀϑηναῖοι, die dem ruhme
des alten namens entsprächen, und die Ἀττικοί, die alle übeln eigenschaften hätten,
die man den Athenern nachsagte (Herakleides der Kritiker 4). das land hieſs bei
3*
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[35/0045] Die burg der Kekroper. das volk Athenas. Die burg von Athen ist ihrer anlage und bauart nach ein erzeugnis derselben periode wie die von Tiryns, Orchomenos, Arne und viele andere, in Attika namentlich Eleusis und Thorikos. ihre herren haben die kekropische ebene beherrscht; das ist nicht wenig für jene zeit der vielen kleinen burgherren. aber wirkliche staaten oder städte kannte jene zeit noch nicht. jenseits der niederung im südwesten, die damals entweder meer oder lagune war (das ἁλίπεδον), erhob sich schon eine andere solche burg, Munichia, und an den abhängen des Parnes und Brilettos werden sie nicht gefehlt haben. es hat der zeit und der arbeit und der kämpfe vieler generationen bedurft, bis sich über den trümmern dieser burgen die stadt Athen, und über den kleinen politischen ein- heiten der staat der Athener erhob. auch diese zeiten und kämpfe sind verschollen, und auch von ihnen ist nur im gedächtnisse geblieben, daſs die continuität nie abgerissen ist, während überall ringsumher, in Boeotien und Euboia, Megara und Aigina, und im ganzen Peloponnes fremde eroberer den geschichtlichen fortschritt bringen. in langem ruhigem stillem wachstum ist das edelste reis des hellenischen gartens auf dem felsen Athenas gediehen. In diesen zeiten des werdens ist das königtum oder vielmehr die monarchie zu grunde gegangen und die souveränetät der gemeinde (δῆμος) entstanden. in die gemeinde aber sind die herrschaften alle aufgegangen, die vorher neben einander in Attika bestanden, auch die der burg, und sie am entschiedensten, denn sie hat sogar ihren namen eingebüſst. sie heiſst nun wie die gemeinde; die gemeinde aber ist die der ‘Athena- hefohlenen’, und stadt und burg heiſst nur nach der hohen himmels- göttin, die ganz eigentlich in das alte fürstenschloſs eingezogen ist, die wirkliche nachfolgerin der alten könige. Ἀϑηναῖος ist nicht anders gebildet als Ἑκαταῖος Διονύσιος, und nur die gewohnheit, darin eine ortsbezeichnung zu hören, läſst die eminente bedeutung der tatsache übersehen, daſs die ‘zugehörigkeit zu Athena’ zugleich die herkunft aus Athen bezeichnet. nur Platon mit seinem gefühle für die religion seiner väter empfindet Ἀϑηναῖος wegen des göttlichen namens als eine ehrende bezeichnung. 2) dem namen der bürgerschaft entspricht der der stadt, Das volk Athenas. 2) Ges. I 626d, wo er den anonymen Ἀϑηναῖος einführt, der eben dadurch als typus charakterisirt werden soll, daſs er ‘verdient Ἀϑηναῖος zu heiſsen’, daſs Athenas geist auf ihm ruht. sehr hübsch ist es, wie hundert jahre später daraus gemacht ist, es gäbe in Athen zwei sorten einwohner, die Ἀϑηναῖοι, die dem ruhme des alten namens entsprächen, und die Ἀττικοί, die alle übeln eigenschaften hätten, die man den Athenern nachsagte (Herakleides der Kritiker 4). das land hieſs bei 3*

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893, S. 35. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893/45>, abgerufen am 24.04.2024.