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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893.

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Die stimmung in den chorliedern.

Was wollte der dichter mit diesen liedern? gar nichts, nur eine schil-
derung der volksversammlung zum zeitvertreib? denn die Thesmophoren
geht nicht das mindeste davon an. blicken wir erst noch auf die anderen
lieder des dramas. als sich gezeigt hat, dass ein mann eingedrungen ist,
suchen sie die pnyx mit lebhaften sprüngen ab und singen dazu gar er-
schreckliche worte von den heimsuchungen der göttlichen gerechtigkeit,
die schliesslich jeden frevler ereile. das ist die feierliche grossmäuligkeit
fluchender pfaffen, wie sie der eumolpidische ankläger des Andokides im
munde führt; zu den sprüngen des weiberchores steht sie in ergötz-
lichster weise im contraste, und gleich fängt sich Mnesilochos-Telephos
einen als säugling drapirten weinschlauch: hier ist die parodische tendenz
offenbar. dagegen steht an einem ruhepunkte des dramas ein grosses
tanzlied, das in lauter einzelanrufungen vieler gottheiten und dem ent-
sprechend in viele kleine strophen zerfällt, sehr häufig volkstümlich in
rhythmen und formeln (953--1000). dass es eine parabase ersetzt, sagt
der dichter selbst, da er erklärt, auf die spottreden zu verzichten, weil die
frauen im heiligtume seien (965). auch eine anrufung, an Pallas und
die Thesmophoren, bietet das letzte lied (1136--59), in dem bemerkens-
wert ist, dass Pallas als die feindin der tyrannen, osper eikos, wie sich
gebührt und man ihr zutrauen muss, bezeichnet wird und frieden bringen
soll. der dichter hat also gerade im zweiten teile, wo die Thermophorien,
nach denen das stück heisst, gar keine bedeutung mehr für die hand-
lung haben, dem feste und der religiösen ceremonie raum geschafft, in-
dem er den für die handlung auch überflüssigen chor beschäftigte. zum
entgelte fehlt der parabase die ode gänzlich, in der sonst so oft ernst-
hafte gebete an die götter gerichtet werden. die bedeutung, die etwa
in den Rittern die stolzen siegesfrohen oden der parabase haben, sind
wir verpflichtet hier in den liedern zu suchen, die anklingend an die
feierlichen formeln der volksversammlung den chor der frauen, der ohne
parodos sich versammelt, als vertretung des demos Athenaion einführen.
auf diese formeln legt der dichter wert. wurden sie nun 410 im früh-
jahre gesprochen? schwerlich, da sie Demophantos für den sommer 410
erst neu einsetzt. gewiss restituirt er nur das seit Solon oder vielmehr
Kleisthenes herkömmliche, aber er restituirt es, weil es eine weile
geruht hatte: just in diese pause setzt die moderne conjectur die
nachbildung auf der komischen bühne. der fluch trifft in erster linie
jeden, der die verfassung zu stürzen strebt, orkous tous nenomismenous,
das sind die geltenden eide der beamten, ratsherren und richter, psephis-
mata kai nomous, das ist die volksherrschaft. ein solcher versuch ist

Die stimmung in den chorliedern.

Was wollte der dichter mit diesen liedern? gar nichts, nur eine schil-
derung der volksversammlung zum zeitvertreib? denn die Thesmophoren
geht nicht das mindeste davon an. blicken wir erst noch auf die anderen
lieder des dramas. als sich gezeigt hat, daſs ein mann eingedrungen ist,
suchen sie die pnyx mit lebhaften sprüngen ab und singen dazu gar er-
schreckliche worte von den heimsuchungen der göttlichen gerechtigkeit,
die schlieſslich jeden frevler ereile. das ist die feierliche groſsmäuligkeit
fluchender pfaffen, wie sie der eumolpidische ankläger des Andokides im
munde führt; zu den sprüngen des weiberchores steht sie in ergötz-
lichster weise im contraste, und gleich fängt sich Mnesilochos-Telephos
einen als säugling drapirten weinschlauch: hier ist die parodische tendenz
offenbar. dagegen steht an einem ruhepunkte des dramas ein groſses
tanzlied, das in lauter einzelanrufungen vieler gottheiten und dem ent-
sprechend in viele kleine strophen zerfällt, sehr häufig volkstümlich in
rhythmen und formeln (953—1000). daſs es eine parabase ersetzt, sagt
der dichter selbst, da er erklärt, auf die spottreden zu verzichten, weil die
frauen im heiligtume seien (965). auch eine anrufung, an Pallas und
die Thesmophoren, bietet das letzte lied (1136—59), in dem bemerkens-
wert ist, daſs Pallas als die feindin der tyrannen, ὥσπεϱ εἰκός, wie sich
gebührt und man ihr zutrauen muſs, bezeichnet wird und frieden bringen
soll. der dichter hat also gerade im zweiten teile, wo die Thermophorien,
nach denen das stück heiſst, gar keine bedeutung mehr für die hand-
lung haben, dem feste und der religiösen ceremonie raum geschafft, in-
dem er den für die handlung auch überflüssigen chor beschäftigte. zum
entgelte fehlt der parabase die ode gänzlich, in der sonst so oft ernst-
hafte gebete an die götter gerichtet werden. die bedeutung, die etwa
in den Rittern die stolzen siegesfrohen oden der parabase haben, sind
wir verpflichtet hier in den liedern zu suchen, die anklingend an die
feierlichen formeln der volksversammlung den chor der frauen, der ohne
parodos sich versammelt, als vertretung des δῆμος Ἀϑηναίων einführen.
auf diese formeln legt der dichter wert. wurden sie nun 410 im früh-
jahre gesprochen? schwerlich, da sie Demophantos für den sommer 410
erst neu einsetzt. gewiſs restituirt er nur das seit Solon oder vielmehr
Kleisthenes herkömmliche, aber er restituirt es, weil es eine weile
geruht hatte: just in diese pause setzt die moderne conjectur die
nachbildung auf der komischen bühne. der fluch trifft in erster linie
jeden, der die verfassung zu stürzen strebt, ὅϱκους τοὺς νενομισμένους,
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ματα καὶ νόμους, das ist die volksherrschaft. ein solcher versuch ist

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[349/0359] Die stimmung in den chorliedern. Was wollte der dichter mit diesen liedern? gar nichts, nur eine schil- derung der volksversammlung zum zeitvertreib? denn die Thesmophoren geht nicht das mindeste davon an. blicken wir erst noch auf die anderen lieder des dramas. als sich gezeigt hat, daſs ein mann eingedrungen ist, suchen sie die pnyx mit lebhaften sprüngen ab und singen dazu gar er- schreckliche worte von den heimsuchungen der göttlichen gerechtigkeit, die schlieſslich jeden frevler ereile. das ist die feierliche groſsmäuligkeit fluchender pfaffen, wie sie der eumolpidische ankläger des Andokides im munde führt; zu den sprüngen des weiberchores steht sie in ergötz- lichster weise im contraste, und gleich fängt sich Mnesilochos-Telephos einen als säugling drapirten weinschlauch: hier ist die parodische tendenz offenbar. dagegen steht an einem ruhepunkte des dramas ein groſses tanzlied, das in lauter einzelanrufungen vieler gottheiten und dem ent- sprechend in viele kleine strophen zerfällt, sehr häufig volkstümlich in rhythmen und formeln (953—1000). daſs es eine parabase ersetzt, sagt der dichter selbst, da er erklärt, auf die spottreden zu verzichten, weil die frauen im heiligtume seien (965). auch eine anrufung, an Pallas und die Thesmophoren, bietet das letzte lied (1136—59), in dem bemerkens- wert ist, daſs Pallas als die feindin der tyrannen, ὥσπεϱ εἰκός, wie sich gebührt und man ihr zutrauen muſs, bezeichnet wird und frieden bringen soll. der dichter hat also gerade im zweiten teile, wo die Thermophorien, nach denen das stück heiſst, gar keine bedeutung mehr für die hand- lung haben, dem feste und der religiösen ceremonie raum geschafft, in- dem er den für die handlung auch überflüssigen chor beschäftigte. zum entgelte fehlt der parabase die ode gänzlich, in der sonst so oft ernst- hafte gebete an die götter gerichtet werden. die bedeutung, die etwa in den Rittern die stolzen siegesfrohen oden der parabase haben, sind wir verpflichtet hier in den liedern zu suchen, die anklingend an die feierlichen formeln der volksversammlung den chor der frauen, der ohne parodos sich versammelt, als vertretung des δῆμος Ἀϑηναίων einführen. auf diese formeln legt der dichter wert. wurden sie nun 410 im früh- jahre gesprochen? schwerlich, da sie Demophantos für den sommer 410 erst neu einsetzt. gewiſs restituirt er nur das seit Solon oder vielmehr Kleisthenes herkömmliche, aber er restituirt es, weil es eine weile geruht hatte: just in diese pause setzt die moderne conjectur die nachbildung auf der komischen bühne. der fluch trifft in erster linie jeden, der die verfassung zu stürzen strebt, ὅϱκους τοὺς νενομισμένους, das sind die geltenden eide der beamten, ratsherren und richter, ψηφίσ- ματα καὶ νόμους, das ist die volksherrschaft. ein solcher versuch ist

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893, S. 349. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893/359>, abgerufen am 25.04.2024.