Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893.

Bild:
<< vorherige Seite

Der process des Perikles. euthuna strategon.
des logistenprocesses frei lässt. so bleibt nur das eingreifen des souveräns
gegen seinen vertrauensmann. wenn das volk den Perikles nicht mehr
zum strategen haben wollte, ihn für seine leiden verantwortlich machte,
ihn sie büssen lassen wollte, so war das ein unwiderstehlicher drang:
der minister musste fallen. aber dieser minister war ein ordnungsmässig
für ein weiteres jahr gewählter beamter; der liess sich nicht so leicht
wie ein minister beseitigen. da half nur amtsentsetzung, eine ausnahme-
massregel, und das genügte weder der volkswut noch dem selbstgefühle
des Perikles noch der gerechtigkeit besonnener verfassungsfreunde.
das gericht musste sprechen. aber worüber? wo kein kläger ist, ist
kein richter. nach euthuna rief man, euthuna erhielt man, sogar logos
und euthuna zugleich. aber die euthuna des strategen ist eine hoch-
politische action, und der hochpolitische angriff gegen den strategen
wird in die formen der euthyna gekleidet.56)

Es muss jetzt, wo man bei Aristoteles gelernt hat, dass für alleeuthuna
strate-
gan.

magistrate mit ausnahme der officierstellen die iteration verboten war,
noch viel bedeutsamer erscheinen, als es zuvor für jeden der fähigkeit
und guten willen zum denken hatte schon war, dass die strategie wie
alle militärischen ämter continuirt werden kann. damit ist die rechen-
schaftsablage tatsächlich hinausgeschoben, so lange die volksgunst dem
strategen bleibt. denn es ist weder rechtlich noch praktisch möglich,
dass der stratege, dessen amt vom skirophorion in den hekatombaion

nicht in betracht, denn er ist aus den versen des Hermippos (cap. 33) vorschnell
erschlossen; Simmias, nach Theophrast, Lakrateides, (den Eumolpidan, oben s. 82)
nach dem Pontiker Herakleides. es können ganz gut mehrere, z. b. als sunegoroi
beteiligt gewesen sein. aber bezeichnend ist, dass kein namhafter politiker es ge-
wagt hat, den Perikles des diebstahls zu zeihen. was Ephoros und die neueren
von den parteien erzählen, ist zum grössten teile falsch oder ganz ungewiss. ins-
besondere die angebliche pfaffenpartei, die über die Propylaeen entrüstet gewesen
sein soll, verträgt eine ruhige prüfung kaum. mit den Eumolpiden hat Perikles
schwerlich feindlich gestanden; wir kennen unter den wenigen authentischen worten
von ihm eins voll ehrfurcht über die agrapha Eumolpidon, Ps. Lysias (Meletos)
gegen Andok. 10.
56) In folge der späteren redeweise ist nicht immer gut zu unterscheiden, was
wirklich euthyna war. doch nennt so Aristoteles 27, 1 die anklage des Kimon durch
Perikles, Plutarch (Per. 10. Kim. 14) redet von probole und bezeichnet Perikles
als einen der drei vom volke bestimmten sunegoroi. das ist sehr glaublich und
stammt wahrscheinlich von Stesimbrotos, da eine hämische anekdote anklebt. der
verlauf ist dem processe des Perikles ganz analog zu denken. -- natürlich existiren
daneben capitalprocesse (wol eisaggeliai) prodosias wie gegen Thukydides, Pytho-
doros der Isolochos sohn, und gar der der Arginusen.

Der proceſs des Perikles. εὔϑυνα στϱατηγῶν.
des logistenprocesses frei läſst. so bleibt nur das eingreifen des souveräns
gegen seinen vertrauensmann. wenn das volk den Perikles nicht mehr
zum strategen haben wollte, ihn für seine leiden verantwortlich machte,
ihn sie büſsen lassen wollte, so war das ein unwiderstehlicher drang:
der minister muſste fallen. aber dieser minister war ein ordnungsmäſsig
für ein weiteres jahr gewählter beamter; der lieſs sich nicht so leicht
wie ein minister beseitigen. da half nur amtsentsetzung, eine ausnahme-
maſsregel, und das genügte weder der volkswut noch dem selbstgefühle
des Perikles noch der gerechtigkeit besonnener verfassungsfreunde.
das gericht muſste sprechen. aber worüber? wo kein kläger ist, ist
kein richter. nach εὔϑυνα rief man, εὔϑυνα erhielt man, sogar λόγος
und εὔϑυνα zugleich. aber die εὔϑυνα des strategen ist eine hoch-
politische action, und der hochpolitische angriff gegen den strategen
wird in die formen der euthyna gekleidet.56)

Es muſs jetzt, wo man bei Aristoteles gelernt hat, daſs für alleεὔϑυνα
στϱατη-
γᾶν.

magistrate mit ausnahme der officierstellen die iteration verboten war,
noch viel bedeutsamer erscheinen, als es zuvor für jeden der fähigkeit
und guten willen zum denken hatte schon war, daſs die strategie wie
alle militärischen ämter continuirt werden kann. damit ist die rechen-
schaftsablage tatsächlich hinausgeschoben, so lange die volksgunst dem
strategen bleibt. denn es ist weder rechtlich noch praktisch möglich,
daſs der stratege, dessen amt vom skirophorion in den hekatombaion

nicht in betracht, denn er ist aus den versen des Hermippos (cap. 33) vorschnell
erschlossen; Simmias, nach Theophrast, Lakrateides, (den Eumolpidan, oben s. 82)
nach dem Pontiker Herakleides. es können ganz gut mehrere, z. b. als συνήγοϱοι
beteiligt gewesen sein. aber bezeichnend ist, daſs kein namhafter politiker es ge-
wagt hat, den Perikles des diebstahls zu zeihen. was Ephoros und die neueren
von den parteien erzählen, ist zum gröſsten teile falsch oder ganz ungewiſs. ins-
besondere die angebliche pfaffenpartei, die über die Propylaeen entrüstet gewesen
sein soll, verträgt eine ruhige prüfung kaum. mit den Eumolpiden hat Perikles
schwerlich feindlich gestanden; wir kennen unter den wenigen authentischen worten
von ihm eins voll ehrfurcht über die ἄγϱαφα Εὐμολπιδῶν, Ps. Lysias (Meletos)
gegen Andok. 10.
56) In folge der späteren redeweise ist nicht immer gut zu unterscheiden, was
wirklich euthyna war. doch nennt so Aristoteles 27, 1 die anklage des Kimon durch
Perikles, Plutarch (Per. 10. Kim. 14) redet von πϱοβολή und bezeichnet Perikles
als einen der drei vom volke bestimmten συνήγοϱοι. das ist sehr glaublich und
stammt wahrscheinlich von Stesimbrotos, da eine hämische anekdote anklebt. der
verlauf ist dem processe des Perikles ganz analog zu denken. — natürlich existiren
daneben capitalprocesse (wol εἰσαγγελίαι) πϱοδοσίας wie gegen Thukydides, Pytho-
doros der Isolochos sohn, und gar der der Arginusen.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0259" n="249"/><fw place="top" type="header">Der proce&#x017F;s des Perikles. &#x03B5;&#x1F54;&#x03D1;&#x03C5;&#x03BD;&#x03B1; &#x03C3;&#x03C4;&#x03F1;&#x03B1;&#x03C4;&#x03B7;&#x03B3;&#x1FF6;&#x03BD;.</fw><lb/>
des logistenprocesses frei lä&#x017F;st. so bleibt nur das eingreifen des souveräns<lb/>
gegen seinen vertrauensmann. wenn das volk den Perikles nicht mehr<lb/>
zum strategen haben wollte, ihn für seine leiden verantwortlich machte,<lb/>
ihn sie bü&#x017F;sen lassen wollte, so war das ein unwiderstehlicher drang:<lb/>
der minister mu&#x017F;ste fallen. aber dieser minister war ein ordnungsmä&#x017F;sig<lb/>
für ein weiteres jahr gewählter beamter; der lie&#x017F;s sich nicht so leicht<lb/>
wie ein minister beseitigen. da half nur amtsentsetzung, eine ausnahme-<lb/>
ma&#x017F;sregel, und das genügte weder der volkswut noch dem selbstgefühle<lb/>
des Perikles noch der gerechtigkeit besonnener verfassungsfreunde.<lb/>
das gericht mu&#x017F;ste sprechen. aber worüber? wo kein kläger ist, ist<lb/>
kein richter. nach &#x03B5;&#x1F54;&#x03D1;&#x03C5;&#x03BD;&#x03B1; rief man, &#x03B5;&#x1F54;&#x03D1;&#x03C5;&#x03BD;&#x03B1; erhielt man, sogar &#x03BB;&#x03CC;&#x03B3;&#x03BF;&#x03C2;<lb/>
und &#x03B5;&#x1F54;&#x03D1;&#x03C5;&#x03BD;&#x03B1; zugleich. aber die &#x03B5;&#x1F54;&#x03D1;&#x03C5;&#x03BD;&#x03B1; des strategen ist eine hoch-<lb/>
politische action, und der hochpolitische angriff gegen den strategen<lb/>
wird in die formen der euthyna gekleidet.<note place="foot" n="56)">In folge der späteren redeweise ist nicht immer gut zu unterscheiden, was<lb/>
wirklich euthyna war. doch nennt so Aristoteles 27, 1 die anklage des Kimon durch<lb/>
Perikles, Plutarch (Per. 10. Kim. 14) redet von &#x03C0;&#x03F1;&#x03BF;&#x03B2;&#x03BF;&#x03BB;&#x03AE; und bezeichnet Perikles<lb/>
als einen der drei vom volke bestimmten &#x03C3;&#x03C5;&#x03BD;&#x03AE;&#x03B3;&#x03BF;&#x03F1;&#x03BF;&#x03B9;. das ist sehr glaublich und<lb/>
stammt wahrscheinlich von Stesimbrotos, da eine hämische anekdote anklebt. der<lb/>
verlauf ist dem processe des Perikles ganz analog zu denken. &#x2014; natürlich existiren<lb/>
daneben capitalprocesse (wol &#x03B5;&#x1F30;&#x03C3;&#x03B1;&#x03B3;&#x03B3;&#x03B5;&#x03BB;&#x03AF;&#x03B1;&#x03B9;) &#x03C0;&#x03F1;&#x03BF;&#x03B4;&#x03BF;&#x03C3;&#x03AF;&#x03B1;&#x03C2; wie gegen Thukydides, Pytho-<lb/>
doros der Isolochos sohn, und gar der der Arginusen.</note></p><lb/>
          <p>Es mu&#x017F;s jetzt, wo man bei Aristoteles gelernt hat, da&#x017F;s für alle<note place="right">&#x03B5;&#x1F54;&#x03D1;&#x03C5;&#x03BD;&#x03B1;<lb/>
&#x03C3;&#x03C4;&#x03F1;&#x03B1;&#x03C4;&#x03B7;-<lb/>
&#x03B3;&#x1FB6;&#x03BD;.</note><lb/>
magistrate mit ausnahme der officierstellen die iteration verboten war,<lb/>
noch viel bedeutsamer erscheinen, als es zuvor für jeden der fähigkeit<lb/>
und guten willen zum denken hatte schon war, da&#x017F;s die strategie wie<lb/>
alle militärischen ämter continuirt werden kann. damit ist die rechen-<lb/>
schaftsablage tatsächlich hinausgeschoben, so lange die volksgunst dem<lb/>
strategen bleibt. denn es ist weder rechtlich noch praktisch möglich,<lb/>
da&#x017F;s der stratege, dessen amt vom skirophorion in den hekatombaion<lb/><note xml:id="note-0259" prev="#note-0258" place="foot" n="55)">nicht in betracht, denn er ist aus den versen des Hermippos (cap. 33) vorschnell<lb/>
erschlossen; Simmias, nach Theophrast, Lakrateides, (den Eumolpidan, oben s. 82)<lb/>
nach dem Pontiker Herakleides. es können ganz gut mehrere, z. b. als &#x03C3;&#x03C5;&#x03BD;&#x03AE;&#x03B3;&#x03BF;&#x03F1;&#x03BF;&#x03B9;<lb/>
beteiligt gewesen sein. aber bezeichnend ist, da&#x017F;s kein namhafter politiker es ge-<lb/>
wagt hat, den Perikles des diebstahls zu zeihen. was Ephoros und die neueren<lb/>
von den parteien erzählen, ist zum grö&#x017F;sten teile falsch oder ganz ungewi&#x017F;s. ins-<lb/>
besondere die angebliche pfaffenpartei, die über die Propylaeen entrüstet gewesen<lb/>
sein soll, verträgt eine ruhige prüfung kaum. mit den Eumolpiden hat Perikles<lb/>
schwerlich feindlich gestanden; wir kennen unter den wenigen authentischen worten<lb/>
von ihm eins voll ehrfurcht über die &#x1F04;&#x03B3;&#x03F1;&#x03B1;&#x03C6;&#x03B1; &#x0395;&#x1F50;&#x03BC;&#x03BF;&#x03BB;&#x03C0;&#x03B9;&#x03B4;&#x1FF6;&#x03BD;, Ps. Lysias (Meletos)<lb/>
gegen Andok. 10.</note><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[249/0259] Der proceſs des Perikles. εὔϑυνα στϱατηγῶν. des logistenprocesses frei läſst. so bleibt nur das eingreifen des souveräns gegen seinen vertrauensmann. wenn das volk den Perikles nicht mehr zum strategen haben wollte, ihn für seine leiden verantwortlich machte, ihn sie büſsen lassen wollte, so war das ein unwiderstehlicher drang: der minister muſste fallen. aber dieser minister war ein ordnungsmäſsig für ein weiteres jahr gewählter beamter; der lieſs sich nicht so leicht wie ein minister beseitigen. da half nur amtsentsetzung, eine ausnahme- maſsregel, und das genügte weder der volkswut noch dem selbstgefühle des Perikles noch der gerechtigkeit besonnener verfassungsfreunde. das gericht muſste sprechen. aber worüber? wo kein kläger ist, ist kein richter. nach εὔϑυνα rief man, εὔϑυνα erhielt man, sogar λόγος und εὔϑυνα zugleich. aber die εὔϑυνα des strategen ist eine hoch- politische action, und der hochpolitische angriff gegen den strategen wird in die formen der euthyna gekleidet. 56) Es muſs jetzt, wo man bei Aristoteles gelernt hat, daſs für alle magistrate mit ausnahme der officierstellen die iteration verboten war, noch viel bedeutsamer erscheinen, als es zuvor für jeden der fähigkeit und guten willen zum denken hatte schon war, daſs die strategie wie alle militärischen ämter continuirt werden kann. damit ist die rechen- schaftsablage tatsächlich hinausgeschoben, so lange die volksgunst dem strategen bleibt. denn es ist weder rechtlich noch praktisch möglich, daſs der stratege, dessen amt vom skirophorion in den hekatombaion 55) εὔϑυνα στϱατη- γᾶν. 56) In folge der späteren redeweise ist nicht immer gut zu unterscheiden, was wirklich euthyna war. doch nennt so Aristoteles 27, 1 die anklage des Kimon durch Perikles, Plutarch (Per. 10. Kim. 14) redet von πϱοβολή und bezeichnet Perikles als einen der drei vom volke bestimmten συνήγοϱοι. das ist sehr glaublich und stammt wahrscheinlich von Stesimbrotos, da eine hämische anekdote anklebt. der verlauf ist dem processe des Perikles ganz analog zu denken. — natürlich existiren daneben capitalprocesse (wol εἰσαγγελίαι) πϱοδοσίας wie gegen Thukydides, Pytho- doros der Isolochos sohn, und gar der der Arginusen. 55) nicht in betracht, denn er ist aus den versen des Hermippos (cap. 33) vorschnell erschlossen; Simmias, nach Theophrast, Lakrateides, (den Eumolpidan, oben s. 82) nach dem Pontiker Herakleides. es können ganz gut mehrere, z. b. als συνήγοϱοι beteiligt gewesen sein. aber bezeichnend ist, daſs kein namhafter politiker es ge- wagt hat, den Perikles des diebstahls zu zeihen. was Ephoros und die neueren von den parteien erzählen, ist zum gröſsten teile falsch oder ganz ungewiſs. ins- besondere die angebliche pfaffenpartei, die über die Propylaeen entrüstet gewesen sein soll, verträgt eine ruhige prüfung kaum. mit den Eumolpiden hat Perikles schwerlich feindlich gestanden; wir kennen unter den wenigen authentischen worten von ihm eins voll ehrfurcht über die ἄγϱαφα Εὐμολπιδῶν, Ps. Lysias (Meletos) gegen Andok. 10.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893/259
Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893, S. 249. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893/259>, abgerufen am 27.11.2024.